Novecento. Alessandro Baricco.
Schauspiel.
André Dussolier. Théâtre du Rond-Point, Paris.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 3. Oktober 2017.
Wie "Amadeus" von Peter Shaffer und "Das Parfüm" von Patrick Süskind erzählt auch "Novecento" von Alessandro Baricco von einem Wunderkind, also von einem Wesen, das alles, was wir bisher von der Welt wussten, übersteigt und damit auf dem Gebiet seiner Begabung Unerhörtes vollbringt. Auf der Bühne wird uns das jugendliche Genie von einem Erzähler vermittelt; bei "Amadeus" von Salieri, bei "Novecento" von einem namenlosen Trompeter. Beide sehen an das Wunderbare nur heran, nicht aber hinein. Indem sie berichten, was sie in der Begegnung mit ihm erlebt haben, geht uns das Ungewöhnliche seiner Begabung auf. Wir beginnen, es zu verehren und zu lieben, aus der stillen Hoffnung heraus, beim nächsten Mal, wo wir auf die Welt kommen, seien wir an der Reihe, das Ausserordentliche hervorzubringen.
Das Genie kommt immer in einem bestimmten Milieu hoch. Bei Mozart ist es das josefinische Wien, bei Novecento ein Transatlantikdampfer in den Roaring Twenties. Beide Milieus sind pittoresk und heben die Handlung aus der Sphäre des Belanglos-Alltäglichen. - Technisch betrachtet, entfaltet sich das Stück durch die Aneinanderreihung von Episoden. Sie machen uns mit dem Genie durch Schilderung verschiedener Vorkommnisse bekannt. Ist der Stoff erschöpft, beendet der Autor das Stück, indem er das Genie umkommen lässt. Dadurch ergibt sich ein wirksamer tragischer Schluss.
"Amadeus" und "Novecento" haben mithin vieles gemeinsam. Sie sprechen von einem Menschen, der eine neue, bisher unerhörte Musik geschrieben hat. Aber – und hier kommen wir zu den Unterschieden – der eine hat gelebt, der andere nicht. Die Kompositionen des einen kann man hören, die Klänge des andern existieren nur in der Vorstellung. Der eine hat eine Persönlichkeit, deren Merkmale sich auf der Bühne entfalten, der andere bleibt unbestimmt und blass. Schliesslich bekommt "Amadeus" dadurch Biss, dass ihm ein dramatischer Konflikt zugrundeliegt: Der Neid des Erzählers, dem in der Begegnung mit dem Begnadeten die eigene Mittelmässigkeit aufgeht. In "Novecento" jedoch spricht bloss ein harmloser Freund, der Trompeter, von der ausserordentlichen Könnerschaft des Bordpianisten. Das macht die Sache etwas flau und spannungslos.
Wenn nun "Novecento" in Paris gleichwohl drei Jahre lang vor ausverkauften Häusern lief und jetzt ins vierte Jahr hinein verlängert wird, kann das folglich nicht am Stück liegen, sondern am Mann, der es trägt: André Dussolier. Er hat das italienische Original für seine Sprache adaptiert; er hat die Rolle, in der er sich selbst inszeniert, auf seine Person hin zugerichtet, und er verwirklicht darin das Theater, das ihm vorschwebt. Indem er auf der Bühne tanzt, rennt, spricht, erzählt, mal in die eine, dann in die andere Person schlüpft und in belebtem Spiel eine Situation nach der andern hervorruft, kann er sein ganzes reiches Schauspielertalent zur Darstellung bringen. Dafür wurde ihm 2015 der Molière für die beste Schauspielerleistung zugesprochen. Und da Dussolier in zahlreichen Filmen mitgewirkt hat und mit drei Césars ausgezeichnet wurde, "strömt, strömt [das Publikum] von allen Seiten / um den Schauspieler zu sehen" (Thomas Bernhard). Im direkten Kontakt mit der Bühne will es erfahren, wie er wirklich ist und was er wirklich kann, und es begegnet dabei, wie Bernhard verlangte, dem Unheimlichen.
Die vollständige Beherrschung der darstellerischen Mittel, die André Dussolier mit jünglingshafter Agilität, Eleganz und, leider, auch mit einer leisen Spur von technischer Kälte demonstriert, erhält die Beimischung des Tragischen dadurch, dass man als Zuschauer nie vergisst, einen 71jährigen vor sich zu haben. Und dieses "Noch" ist es, das die Unwiederbringlichkeit des Theaterabends unterstreicht: noch geht alles, noch kann er es, noch ist nicht die geringste Abnahme der Kräfte zu bemerken ... Und so vereinigen sich bei Dussoliers "Novecento" Zuschauer und Schauspieler im grossen Saal des Théâtre du Rond-Point, um einen Abend lang den Triumph der Theaterkunst über die Zeitlichkeit zu feiern.
Und es geht um den Triumph der Schauspielkunst.