Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde. Lukas Bärfuss.
Ein Melodram aus dem letzten Jahrhundert.
Claudia Meyer, Michael Wilhelmi, Sebastian Therre, Rolf Lehmann. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. April 2017.
Wer das Stück nicht gelesen hat – und das dürfte schwierig sein, befindet sich doch zur Zeit auf dem Markt nur gerade ein Exemplar, und zwar im Antiquariat Steinwedel, Betzendorf, Deutschland, zum Preis von 18 Euro (weicher Einband, Kanten gering bestossen – Auslieferung in die Schweiz 7.50 Euro) – wer also "Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde, ein Melodram aus dem letzten Jahrhundert" von Lukas Bärfuss nicht gelesen hat, kann nicht entscheiden, wer an diesem missglückten Abend die grössere Schuld trägt: Das Stück oder die Inszenierung. Der Architekt und die Gymnasiallehrerin – immerhin Vertreter von Berufen, für die man studiert haben muss – gestehen beim Hinausgehen, sie hätten "nichts verstanden". Man kann den beiden Mittdreissigern nicht zum Vorwurf machen, sie hätten das Falsche studiert, denn der Kritiker muss, wenn er mit Fragen bedrängt wird, bekennen, er habe auch "nichts verstanden".
Da geht es den Dramaturgen besser. Michael Gmaj und Lea Lustenberger waren bei den Konzeptionsgesprächen dabei. Sie haben den Probenprozess begleitet und können jetzt im Programmheft Auskunft darüber geben, was "unsere Inszenierung" will. Und weil die Dramaturgen den Theatertext kennen und ihn mit der Regisseurin Claudia Meyer gründlich studiert haben, können sie jetzt sagen: "Die Handlung des Stücks ist einfach umrissen". In der Tat: Hübsch ordentlich von vorne nach hinten erzählt, ist die Handlung gut nachvollziehbar. Die Aufführung jedoch, die verweigert sich fatalerweise diesem hübsch ordentlichen Erzählen von vorn nach hinten. Sie setzt stattdessen ein mit einer Liegenden, die sich als Tote entpuppt, und am Schluss der Vorstellung wird klar, dass die erste Szene die Fortsetzung der letzten war, so dass das "Melodram" durch sie eine zyklische Anlage bekam. Man kann darin, wenn man will, eine Andeutung aufs ausweglose Kreisen verdammter Seelen im Inferno sehen (das Programmheft verbietet's jedenfalls nicht), anderseits erhöht dieser Kniff Tragik und Bedeutsamkeit der Geschichte nicht wesentlich, und die Frage, ob es sich dabei um einen Regieeinfall handele oder um einen Autoreneinfall, lässt sich ohne Kenntnis des Stücks ohnehin nicht entscheiden.
Die Verrätselung der Erzählweise durch Zerstörung der Linearität ist ein Effekt, den in der laufenden Berner Spielzeit auch schon Lars Norén mit "3.31.93", Elmar Goerden mit "Penelope", Stefano Massini mit "Anna Politkowskaja", Olga Bach mit der "Vernichtung" und Jürg Halter mit dem "Mondkreisläufer" vorgeführt haben. Diesem Verfahren entspricht die unregelmässige Reihung der Fenster des Berner Büros B am Feusi-Gebäude im Wankdorf und, noch abenteuerlicher, die Fassade der Architekten Gmür Gschwentner am Hochhaus Hard Turm Park in Zürich (bei Einfahrt der Bahn links), die mustergültig vorführt, was man in der Szene unter dem Begriff "geschüttelte Fenster" versteht. Damit ist augenfällig, dass das Disruptive zuerst als ästhetische Attitüde auftauchte, bevor es durch Donald Trump als Signatur unserer Zeit beglaubigt wurde.
Das geschüttelte Erzählen, bei dem das Früher und Später auf der Bühne keineswegs mehr ein Früher und Später in der Handlung bedeutet, macht die Aufführung dadurch kenntlich, dass das Video von Sebastian Therre nur einen Blank Screen zeigt, über den waagrechte Balken laufen wie bei gestörter Bildübertragung. Die Szenen dazwischen erscheinen demnach als Puzzle-Teile, die man, ohne die Spielanleitung des Programmhefts, nicht zum Ganzen formen kann. Bärfuss dürfte daran nicht ganz unschuldig sein. Anderseits liebt Regisseurin Claudia Meyer die harten Eingriffe, die bis ins Entstellende gehen können. Ein Beispiel dafür bot ihr "Othello" in der letzten Spielzeit. Und jetzt wieder "Die Reise von Klaus und Edith durch den Schacht zum Mittelpunkt der Erde".
Das Geschwisterpaar ist "durch ein dunkles Geheimnis aneinander gekettet" (Programmheft). Worin es besteht, wird nie ausgesprochen. Erkennbar werden nur seine Folgen: Etwa der Rückzug des jungen Mannes (sehr überzeugend Gabriel Schneider), dessen Liebe die arme Edith möglicherweise aus ihrem Orkus hätte herausführen können wie weiland Orpheus seine Eurydike. (Die Arie wird auf der Bühne zitiert.) Doch dann weicht der Liebende an der Schwelle zurück. Das Programmheft nennt den Grund; die Aufführung nicht: "Edith hatte ihrem Liebsten ein Kind geboren, eines, das für Klaus nicht existieren durfte. Weil es die Liebe zwischen den Geschwistern bedrohte, haben sie es in einen Sack gepackt und in einem Weiher versenkt. Stein [der junge Mann] will mit einer Frau, die ein solch dunkles Geheimnis mit sich trägt, nichts zu tun haben, und bricht Edith das Herz." Und wieder lässt sich ohne Kenntnis des Stücks nicht entscheiden, wer an der Unterschlagung dieser Information schuld ist: Autor oder Regisseurin? Zu vermuten ist letzteres. Denn woher hätten's sonst die Dramaturgen?
Sicher ist, dass die Verständlichkeit des Stücks durch die Wahl eines Einheitsbühnenbilds (Claudia Meyer) zusätzlich erschwert wird. Auch dies eine Spezialität der Regisseurin. "Die Bühne", erklärt das Programmheft, "verzichtet auf die vielen Ortswechsel, die Bärfuss in seinen Regieanweisungen beschreibt, die konkrete Räume wie die Wohnung der beiden Geschwister oder die U-Bahn-Station als Handlungsorte angeben. Auf der Bühne steht eine verlassene Industriehalle, die in den Zuschauerraum ragt. Es [recte: sie] ist ein zentraler Ort für die Handlung und eine sinnhafte Übersetzung für Ediths physische wie psychische Gefangenschaft."
So wird für die, die Bescheid wissen, die Sache einfach. "Elementar, mein lieber Watson." Alle andern aber müssen sich, mangels Kenntnis des Codes ans Sichtbare halten, ohne sich darauf einen Reim machen zu können. Sie sehen immerhin, dass ihnen Qualität geboten wird. Die Musik von Michael Wilhelmi ist ganz vorzüglich; bemerkenswert auch das Licht (Rolf Lehmann). Und das Geschwisterpaar ist mit Irina Wrona und Stéphane Maeder hervorragend besetzt. Man sieht, dass sie wissen, was sie spielen. Es stimmt, ohne dass man im Moment der Aufführung den Grund dafür angeben könnte, jede Miene, jeder Blick. Und auch, bei einem "Melodram" besonders erfreulich, jede Veränderung von Stimme und Rhythmus. Und doch verlässt man die Aufführung mit einem Unbehagen, welches auszusprechen dem Laien schwerfällt. Schopenhauer aber hat's gekonnt. Was er übers Schreiben sagte, gilt nämlich auch fürs Inszenieren. Zumindest im konkreten Fall.
"Wie die schöne Körperform bei der leichtesten oder bei gar keiner Bekleidung am vorteilhaftesten sichtbar ist, und daher ein sehr schöner Mensch, wenn er zugleich Geschmack hätte und auch demselben folgen dürfte, am liebsten beinahe nackt, nur nach Weise der Antiken gehen würde — ebenso nun wird jeder schöne und gedankenreiche Geist sich immer auf die natürlichste, unumwundenste, einfachste Weise ausdrücken, bestrebt, wenn es irgend möglich ist, seine Gedanken andern mitzuteilen, um dadurch die Einsamkeit, die er in einer Welt wie dieser empfinden muss, sich zu erleichtern: umgekehrt nun aber wird Geistesarmut, Verworrenheit, Verschrobenheit sich in die gesuchtesten Ausdrücke und dunkelsten Redensarten kleiden, um so in schwierigen und pomphaften Phrasen kleine, winzige, nüchterne oder alltägliche Gedanken zu verhüllen, demjenigen gleich, der, weil ihm die Majestät der Schönheit abgeht, diesen Mangel durch die Kleidung ersetzen will und unter barbarischem Putz, Flittern, Federn, Krausen, Puffen und Mantel die Winzigkeit oder Hässlichkeit seiner Person zu verstecken sucht. So verlegen wie dieser, wenn er nackt gehen sollte, wäre mancher Autor, wenn man ihn zwänge, sein so pomphaftes, dunkles Buch in dessen kleinen, klaren Inhalt zu übersetzen."
Ediths Kind durfte für Klaus nicht existieren.
Der junge Mann hätte Edith erlösen können.
Aber die Hölle bleibt ausweglos.