Kasimir und Karoline. Ödön von Horváth.
Schauspiel.
Philipp Preuss, Ramallah Aubrecht, Richard Eigner, Konny Keller. Volkstheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. März 2017.
Es ist die alte Geschichte, doch ist sie immer neu. Eine Frau verlässt ihren Mann und geht mit einem andern, weil er ihr mehr zu bieten hat: Mehr Kohle. Mehr Glanz. Schönere Aussichten. Der Zurückgelassene aber sitzt jetzt am Rand des Treibens und schaut von dort aus den beiden zu: "Er! Sie! Teufel! Immer zu, immer zu! Dreht euch, wälzt euch! Der Kerl, wie er an ihr herumgreift, an ihrem Leib!" Und da geht ihm auf: "Der Mensch is ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht."
Was dem Barbiergesellen Woyzeck um 1800 mit seiner Marie in Leipzig passierte, erlebt um 1930 der Kraftwagenfahrer Kasimir am Münchner Oktoberfest mit seiner Karoline: "Ist das vielleicht nicht eigenartig, dass es dir gerade an jenem Tag auffällt, dass wir zwei eventuell nicht zueinander passen – an jenem Tag, an welchem ich abgebaut worden bin? Denk nur nach. Denk nur nach, Fräulein!"
Das Volksstück von Ödön von Horváth ist also durchlässig. Man sieht durch das Schicksal zweier Paare hindurch auf die vielen Geschichten, die sich Tag für Tag bei den vielen ereignen, die unten am Grund leben und nicht hochkommen: "Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen – "
Diese Durchlässigkeit des Volksstücks auf die vielen hat nun Regisseur Philipp Preuss zusammen mit seinem Bearbeiter Roland Koberg am Wiener Volkstheater kongenial auf die Bühne gebracht. Ein glitzernder Streifenvorhang (Bühne: Ramallah Aubrecht), der den Blick aufs Dahinter freigibt, dient gleichzeitig als Projektionsfläche (Video: Konny Keller), und was die Figuren sagen, hört man mal von der Bühne, mal aus den Lautsprechern. So kommt das Innere nach aussen, und das Äussere dringt ins Innere. - Karoline: "Man muss das immer trennen, die allgemeine Krise und das Private." Schürzinger: "Meiner Meinung nach sind aber diese beiden Komplexe unheilvoll miteinander verknüpft." Zuweilen spricht eine Figur aus, was die andere denkt, und dabei zeigt sich: Individualität ist eine Chimäre. Die Personen sind austauschbar. Kasimir: "Wir sind alles nur Menschen. Besonders heute."
Im grossen Schwindel des Oktoberfests (Schwindel als Drehbewegung und Schwindel als Budenzauber) werden die sozialen Schichten durchlässig. Rauch: "Trotz Krise und Politik – mein altes Oktoberfest. Das sitzt noch der Dienstmann neben dem Geheimrat, der Kaufmann neben dem Gewerbetreibenden, der Minister neben dem Arbeiter – so lob ich mir die Demokratie!" Und so entführt der Herr Kommerzienrat Rauch die Büromamsell Karoline mit dem Kabriolett nach Altötting. Doch dann landet sie wieder auf dem Pflaster der Wirklichkeit: "Du hast gesagt, dass der Herr Kommerzienrat mich nur zu seinem Vergnügen benützen möchte – und da hast du schon sehr recht gehabt."
Am Ende des Fests ist es vorbei mit der Illusion von der Durchlässigkeit zwischen den Schichten. Aber es ist nicht vorbei mit der Durchlässigkeit der Muster. Wie Karoline in der drittletzten Szene mit dem Zuschneider Eugen Schürzinger davongeht, bricht aus ihm unversehens die brutale Aggression des kleinkriminellen Merkl Franz hervor. Und wieder sind wir im alten Spiel. "Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet? Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst!" Das schrieb der Verfasser des "Woyzeck" in "Dantons Tod".
Es macht Sinn, dass die Szenen von "Kasimir und Karoline" ohne Pause durchgespielt werden. So werden die Bezüge nicht zerrissen, die die Regie durch Spiegelung und Verdoppelung, Bühnenspiel und Videoprojektion aus dem Volksstück heraushebt, und das Publikum wird aus dem permanenten Schwindel nicht entlassen, den die Drehbühne als Zitat des "Ringelspiels" herbeiführt, bis niemand mehr weiss, wo oben ist und wo unten, wo links und wo rechts, vorne und hinten, innen und aussen.
Wenn die Besucher des Oktoberfests den Zeppelin erblicken und hinaufwinken, bildet sie die Projektion auf den Streifenvorhang gleichzeitig von oben ab. So erzeugt die Wiener Aufführung mit modernen Theatermitteln das psychotische Chaos, dem um 1800 ein Leipziger Barbiergehilfe und um 1930 ein abgebauter Kraftwagenfahrer erlag. Näher kann einem die Welt eines Stücks nicht gebracht werden.
Birgit Stöger spielt "dem Merkl Franz seine Erna". Sie ist einsame Spitze, auch sprecherisch. Die andern sind in Ordnung, die beiden jüngsten Frauen aber, trotz Microports, artikulatorisch ungenügend. Im Unterschied zu Burg und Josefstadt ist das Ensemble immer noch uneinheitlich. Aber unter der neuen Intendantin Anna Badora ist das Volkstheater aus der Belanglosigkeit herausgetreten. Es lohnt sich, seine Produktionen zu verfolgen.
Der Zurückgelassene sitzt jetzt am Rand.
Der andere hat eben mehr zu bieten.