Penelope. Elmar Goerden.
Schauspiel.
Elmar Goerden. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. Februar 2017.
Am 14. November 1716 starb in Hannover Georg Wilhelm Leibniz. In der Philosophie hat sich seine Monadenlehre nicht durchgesetzt. Aber sie prägt seit fünfzig Jahren bis in alle Verästelungen hinein das dramatische Schaffen unserer Zeit. Nach ihrer Vorstellungsweise ist die Welt zerstückelt in eine Vielzahl von einfachen, körperlichen, geistigen, mehr oder weniger bewussten "Substanzen". Leibniz nannte sie "Monaden".
Was uns als "Körper" erscheint – im Theater: als "Stück" – ist in Wahrheit ein Aggregat von vielen Monaden. Auch die Seele ist eine Monade. Mineralien und Pflanzen sind gleichsam schlafende Monaden mit unbewussten Vorstellungen. Der Vorstellungsverlauf jeder Monade kreist in sich; es kommt nichts aus ihr heraus, und es geht nichts in sie hinein.
Als sich die monadologische Auffassung in der Dramatik des 20. Jahrhunderts durchzusetzen begann, fand Jean Tinguely in seinen Maschinen einen Ausdruck für das unüberschaubare, logisch undurchdringliche und doch auch wieder fein geregelte Kreisen von autonomen Bestandteilen, die ihren Sinn in sich tragen und sonst nirgends.
Sogar Dürrenmatt und Frisch wurden von der neuen Bewegung erfasst. Hatten sie vorher noch gebaute Stücke vorgelegt, mit Anfang, Mittelteil und Schluss, so brachte der eine 1983 mit "Achterloo" eine Collage heraus, in der die Patienten einer Irrenanstalt in Probenfetzen die jüngere Weltgeschichte nachspielen; und der andere schrieb "Biografie. Ein Spiel." Ein Ehepaar spielt die Stunde des Auseinandergehens in immer neuen Varianten durch (2. Fassung 1984). Die beiden Schweizer Dramatiker antworteten damit auf das von Beckett geschaffene Theater, namentlich das "Endspiel" (1956), wo Hamm aus der Erstarrung erwacht mit den Worten: "... Ah! ... (Er gähnt.) ... Ich bin dran. (Pause.) Jetzt spiele ich! (Er hält das Taschentuch mit ausgestreckten Armen ausgebreitet vor sich.) Altes Linnen!" - Die Wörter "Spiel" und "spielen" verweisen auf den ersten Seiten schon aufs Theater. Und "altes Linnen" auf den Theatervorhang.
Die Bühne versteht sich fortan nicht mehr als Spiegel der Wirklichkeit (wie Film und Fernsehen). Jetzt hat sie sich vom Realismus emanzipiert und ist selber Wirklichkeit. Aber eine Wirklichkeit im Sinn der Monadenlehre. Ihr Zeitverlauf ist nicht mehr geradlinig, sondern undurchschaubar, chaotisch, verworren. Das alles führte der Urknall, "Warten auf Godot" (1953), in die Theaterliteratur unserer Zeit.
"Wladimir: Lucky.
Pozzo: Er soll singen?
Wladimir: Ja. Oder denken. Oder rezitieren.
Pozzo: Er ist doch stumm.
Wladimir: Stumm!
Pozzo: Vollkommen. Er kann nicht mal stöhnen.
Wladimir: Stumm! Seit wann?
Pozzo (plötzlich wütend): Hören Sie endlich auf mich mit Ihrer verdammten Zeit verrückt zu machen? Es ist unerhört! Wann! Wann! Eines Tages, genügt Ihnen das nicht? Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages bin ich blind geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht?"
Nach den Prinzipien der Monadenlehre (am selben Tag, im selben Augenblick) hat jetzt Elmar Goerden seine "Penelope" gebaut, die bei Konzert Theater Bern zur Uraufführung kam. Der Zeitverlauf ist unentwirrbar. Das einstmals klare Vorher und Nachher wird in der erzählten Zeit oftmals zum Später im Früher. Manchmal vermischen sich "im selben Augenblick" die Zeitebenen bis zum dissonanten Geschehen. Für den Zuschauer sind die Folgen dieser neuen Dramaturgie verstörend. Aber auch, wenn die Stücke gut sind, anregend. Plötzlich kommt nämlich hinter dem Gezeigten ein "Dahinter" zur Erscheinung, das sich dem Logos entzieht.
Im Unterschied zum Dadaismus, der bei der Sinndestruktion und dem leeren Herumalbern stehenblieb, gibt es nun hinter der Wahrheit des Spiels eine Wahrheit hinter dem Spiel. In ihr pulsiert das Schicksal – also jene unergründliche Kraft (Schopenhauer nannte sie "Willen"), die die Welt ebenso bewegt wie das Universum. Im Theater aber tritt an die Stelle von simpler Bedeutung jetzt rätselvolle Bedeutsamkeit - irgend "ein Wesendes, das zugleich Furcht und Faszination auslöst" (numinosum tremendum et fascinosum).
In Elmar Goerdens Dramaturgie beziehen die einzelnen Spielmomente und die einzelnen Schauspieler (also die Monaden) ihre Kraft daraus, dass sie alle für sich ihren Wahrheitskern haben. So wirkt kein Detail leer; jeder Moment ist gefüllt. Der Probenverlauf muss für alle Beteiligten ungemein anregend gewesen sein, bis jeder Teil seine genaue, wenn auch unenträtselbare Funktion fand und einnahm. Jetzt glänzen vier Darsteller (nur vier!) mit einer Fülle von Farben, Facetten, Spiel- und Ausdrucksweisen, dass "Penelope" an der Uraufführung von Anfang bis Ende stark, spannend und vergnüglich ist. Denn aus dem meisterlichen Stück ist eine meisterliche Aufführung gewachsen.
Was aber das Tollste ist - das Ganze wird zusammengebaut aus dem unscheinbarsten Material der Gegenwart: Pizzaschachteln, Universalreiniger, Cola Light. Und diesen Dingen entspricht die Sprache. Alle ihre Elemente entstammen dem Alltag. Und so werden sie auch gesprochen: Unprätentiös, beiläufig, "nicht gross", mit nachlässiger Artikulation. Bei Mariananda Schempp, der Darstellerin der Titelrolle, geht das bis zur Unverständlichkeit. Ich schreib' dieses Manko nachträglich der Premierennervosität zu und würde heute der Produktion lieber drei Sterne geben statt zwei (also "hervorragend" statt "sehr gut").
Mit seiner "Penelope" gelingt es Elmar Goerden, ein Stück auf die Bretter zu bringen, das die Totalität des Theaters umfasst. Immer wieder ergeben sich Resonanzen aus der Dimension der Komödie und der Dimension der Tragödie. Und hinter der Banalität unseres Alltags lauert der abgrundtiefe Mythos. Das alles "im selben Augenblick". Mehr kann Theater nicht geben.
Die Darsteller glänzen mit einer Fülle von Farben.
Resonanzen aus dem Gebiet der Komödie ...
... und Resonanzen aus dem Gebiet der Tragödie.