Boléro. Maurice Béjart. / Dark Glow. Katarzyna Kozielska. / Faun. Sidi Larbi Cherkaoui. / Le spectre de la rose. Mario Goecke.
Ballettabend.
James Tuggle. Staatstheater Stuttgart.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Februar 2017.
Noch bis in die 1980er Jahre galten die Ballettabende am Genfer Grand Théâtre als "spectacles de bonnes" (Aufführungen für Dienstmädchen). Die reichen Familien gaben ihre Aboplätze an die Hausangestellten weiter. Und die verstanden auch nichts von der Sache. So bewegten sich die Tänzer an jenen traurigen Abenden buchstäblich im Leeren: Bei gelichteten Reihen führten sie ihre Choreographien einem mässig interessierten, unkundigen Publikum vor.
Wie anders jetzt in Stuttgart! Beim vierteiligen Ballettabend mit dem Titel "Verführung" sitzen die Bürger selbst im Saal (Abo 30/2), kein Platz bleibt leer, und der Applaus ist nach jeder Nummer donnernd bis enthusiastisch. Das Stuttgarter Ballett gehört seit John Cranko (1961-73) zu den ersten Adressen, und das zeigt sich am jüngsten Ballettabend auch auf Schritt und Tritt.
Das erste Stück, "Dark Glow", ist eine Uraufführung, für die Gabriel Prokofiev mit der Komposition beauftragt wurde. Als Ballettmusik ist die Partitur äusserst interessant und ausdrucksvoll. Das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von James Tuggle setzt hier bereits Höhepunkte. Das "dunkle Glühen" verwirklicht sich akustisch als drängendes, stossendes Geschehen, das Archaik und Modernität effektvoll miteinander verbindet. Dem gegenüber ist die Choreographie von Katarzyna Kozielska klar, heiter, gelöst, mit eleganten, fliessenden Bewegungen (es wird auf Spitze getanzt), so dass sich im Kontrast zwischen tänzerischem und musikalischem Ausdruck der Raum mit rätselhafter Spannung füllt.
Diese Dialektik wird im zweiten Stück, "Faun", umgedreht. Die Tonspur switcht hier zwischen zwei unterschiedlichen Sprachen, Debussys "L'après-midi d'un faune" und "weiterer Musik" (Programmheft) von Nitin Shawney. Auf der Bühne erscheinen derweil zwei Wesen, ein asiatisch Zierliches und ein kraftvoll Animalisches. In einer Welt jenseits von Gut und Böse streben sie zueinander hin, verwachsen aufregend akrobatisch ineinander, bis sie, ununterscheidbar, ein Fleisch geworden sind. Die starke Choreographie von Sidi Larbi Cherkaoui verwirklicht sich vor einem kitschigen Prospekt, der weder dem Tanz noch der Musik angemessen ist. Er zeigt in der Manier der französischen Salonmalerei die Stämme eines dicht bewachsenen Buchenwalds, an dessen schattigem Grund sich nie ein Faun an der Sonne räkeln könnte. Immerhin erklingt jetzt auch die Partitur Claude Debussys entsprechend hölzern.
Mario Goeckes "Le spectre de la rose" übersteigt den Horizont des Betrachters, der noch durch die Genfer "spectacles de ballet" eingeschult wurde. Zum Glück gibt's das Programmheft: "Goecke ist bekannt für seinen ganz eigenen kompromisslosen Stil, der niemals künstlerischen Vorbildern nacheifert und gerade deshalb so unvergleichlich ist. – Neben dem mikroskopischen Blick auf den Körper gewährt er auch psychologische Blicke in das Innere des Menschen." Der Blick der Kenner hat sich längst auf ihn gerichtet. 2015 wurde er von der Fachzeitschrift "Tanz" zum Choreographen des Jahres ernannt, und seine Werke finden sich im Repertoire der Truppen von München, Leipzig und Zürich bis Kanada, Monte Carlo und Norwegen.
Das Schlussstück bildet Maurice Béjarts "Boléro", der am 10. Januar 1961 (elf Jahre vor Goeckes Geburt) in Brüssel zur Uraufführung kam. Maurice Ravels etüdenhaft obstinates Crescendo, verwirklicht mit der abgründigen Erotik eines reinen Männerballetts, bildete seinerzeit eine Sensation. Anfangs stellt der Tänzer der Melodie auf einer roten Fläche jeden Muskel seines wohltrainierten Körpers zur Schau. Dem Dazutreten weiterer Instrumentengruppen in der Partitur entspricht das Dazutreten weiterer Tänzergruppen auf der Bühne, so dass - im Unterschied zu "Dark Glow" (2017) und dem "Spectre de la rose" (2009) - Tanz und Musik im Stück von 1961 noch analog zueinander stehen. Heute ist Béjarts "Boléro" ein Mythos, der sich in die Ballettgeschichte eingeschrieben hat. Aber es brauchte Arnold Schönbergs Ermutigung nicht, um am Ende des Stuttgarter Ballettabends auf den Schluss zu kommen: "Im Zweifel für das Neue!"
... und sie werden ein Fleisch.
Anderseits: Erotik eines reinen Männerballetts.