Peter Grimes. Benjamin Britten.
Oper.
Albert Horne, Philipp M. Krenn, Rolf Glittenberg. Hessisches Staatstheater Wiesbaden.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 23. Februar 2017.
Im ehemaligen neuen königlichen Hoftheater Kaiser Wilhelms, das heute unter dem Namen Hessisches Staatstheater Wiesbaden betrieben wird, kommt zur Repertoirevorstellung von Benjamin Brittens "Peter Grimes" ein schwer vergreistes bildungsbürgerliches Publikum. Ohne sich zu regen, sitzt es den Prolog und den ersten Akt ab, dann trippelt es in den feudalen neobarocken Pausenraum zu seinen reservierten Tischen mit Sekt und Brezeln. Doch für die Fortsetzung der Oper bleiben ganze Reihen leer. Ein Drittel der Zuschauer hat die Aufführung verlassen. Ach, der Herr hatte recht: "Ihr sollt eure Perlen nicht vor die Säue werfen" (Mt. 7,6). Denn "sie haben Augen und sehen nicht" (Ps. 115,5). Hätten sie nämlich Augen gehabt, wäre ihnen schon in den ersten Spielminuten aufgegangen, was ihnen das Hessische Staatstheater für eine ausserordentliche Aufführung bot.
Die Oper beginnt mit einer Gerichtsszene. "Peter Grimes!", ruft das aufgebrachte Volk. Der Angeschuldigte, der wehrlos im Kreis der Ankläger steht oder sitzt, soll sich rechtfertigen, warum er seinen Lehrjungen nicht vom Fischfang zurückgebracht hat. Er sei über Bord gegangen. Aber warum? Unfall? Verbrechen? Das Volk glaubt letzteres. Die Vertreter der Behörden ziehen es vor, an eine Verkettung unglücklicher Umstände zu denken. So beginnt bei Benjamin Britten der Prolog.
In Philipp M. Krenns Inszenierung ist das anders. Da wird Peter Grimes von einem aufgebrachten Mob nachts heimgesucht. Sie reissen die Tür des Containers auf, in dem sich der arme Fischer eingerichtet hat, und zünden mit Taschenlampen suchend umher. Da ist er! Mit nackten Gliedern liegt Peter Grimes im Bett und zieht sich unterm Geheul der Menge die Decke über den Kopf. Und schon ist für alle, die Augen haben, klar, dass ein Team da beginnt, eine eigenständige Lesart zu entwickeln, die sich durch drei Eigenschaften charakterisieren lässt: (1.) Liebe zu den Figuren, (2.) Intelligenz der Spielzüge und (3.) genaue Beachtung der Partitur.
(1.) Die Liebe zu den Figuren zeigt sich an der ungemein sorgfältigen Führung der Sänger. Nicht nur werden die konventionellen Posen vermieden, sondern die Mitwirkenden wissen immer, was sie zu tun haben und wo ihre Person innerlich steht. Dadurch ergeben sich psychologisch fein abgestufte Handlungsverläufe und glaubwürdige, im Fall von Peter Grimes gar erschütternd intensive Charakterzeichnungen. Denn die Titelfigur (dargestellt von Lance Ryan) ist auf der Bühne ununterbrochen anwesend. "Die gesamte Handlung findet in Peter Grimes Kopf statt", schreibt dazu der Regisseur. Diese Darstellungsweise ist zwar in der Theaterwelt nicht mehr neu. Aber beachtenswert ist, mit welcher Sensibilität die Figur in den langen Strecken geführt wird, wo sie nicht singt; wo sie bloss eingesperrt ist im Container, in dem sie Bühnenbildner Rolf Glittenberg untergebracht hat. Da offenbaren die Haltung und die Bewegungen des Sängers jene permanente Spannung, die sich aus der Unvereinbarkeit des Aussenseiters mit der Dorfgemeinschaft ergibt. Am Ende gerät Peter Grimes aus dem Gleichgewicht, und die bedrohliche Schräglage der Situation zwingt ihn zu verkrampftem Totstellverhalten. So bleibt ihm eine aktive Gestaltung seines Schicksals verwehrt.
(2.) Die Intelligenz der Spielzüge tritt zutage in der Behandlung von Chor und Statisterie. Jeder Mensch ist hier ein Individuum und hat seine besondere soziale Stellung, und doch tragen alle auch die Züge jener Einförmigkeit, durch die sich das Kollektiv definiert. Noch spannender ist die Entwicklung Peter Grimes'. Durch sein Rasiermesser erweist er sich als Verwandter Woyzecks. Wie Büchners Barbiergehilfe ist er überfordert von der Situation und von den Stimmen, die sich in seinem Inneren erheben. Hilflos setzt er sich die Klinge zuerst an die Kehle, dann an den Arm. Gewalt und Verstümmelung kennzeichnen sein Leben. "Er müsste sich selbst als Opfer sehen lernen, ohne sich dafür zerstören zu wollen", erklärt Philipp M. Krenn dazu im Programmheft.
So werden in dieser ungemein klugen und sensiblen Aufführung die Wogen des Sturms, die Benjamin Britten in den Zwischenspielen heraufbeschwört, jetzt zu Wogen des Elends, die über Peter Grimes' Hilflosigkeit zusammenschlagen. Dafür achtet Philipp M. Krenn (3.) genau auf die Partitur, und die musikalischen Motive werden auf neuartige Weise zum Sprechen gebracht. Die Partitur verweigert sich diesem Spiel nicht, im Gegenteil, sie geht dabei im engsten Sinn des Wortes "auf".
Engagiert beteiligt sich das hessische Staatsorchester Wiesbaden unter Albert Horne an dieser Neudeutung, die dem Werk in umfassendem Sinn gerecht wird. Ein Ereignis. Denn auf diesen "Peter Grimes" lässt sich ohne grosse Modifikationen beziehen, was Flavius Arrianos (95-180 n.Chr.) für sein Werk in Anspruch nahm: "Wer sich aber wundern sollte, dass nach so vielen Geschichtsschreibern auch mir die Abfassung einer solchen Schrift in den Sinn kommen konnte, der lese zuvor alle Schriften jener anderen durch, mache sich darauf an die meinige, und dann erst wundere er sich."
Gewalt und Verstümmelung kennzeichnen Peter Grimes' Leben.
Die bedrohliche Schräglage zwingt ihn zu verkrampftem Totstellverhalten.