Eugen Onegin. Peter I. Tschaikowsky.
Oper.
Gernot Sahler, Alexander von Pfeil, Eric Droin. Universität Mozarteum Salzburg.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 26. Januar 2017.
Seit Alexander von Pfeil als Chefregisseur der Deutschen Oper Berlin 2007 abgeschossen wurde, ist er ein Geheimtip. Denn zusammen mit Achim Freyer, Robert Carsen und Claus Guth ist er einer der vier besten lebenden Opernregisseure. Die Kenner reisen ihm nach an Orte, an denen das internationale Grossfeuilleton nie vorbeischaut: nach Koblenz, Würzburg, Aachen, Biel-Solothurn ... und jetzt gar ins grosse Studio des Mozarteums Salzburg, wo er die Abschlussproduktion der Gesangsstudenten in Szene setzt. Und da arbeitet er nicht mehr mit Profis, sondern mit Anfängern.
Aber was für Anfänger! Sie gehören zu den Besten, die heute die Opernbühne betreten. Sie bringen eine Begabung und eine Stimme mit, die schon jetzt den Durchschnitt zwischen St. Gallen und Lausanne weit überragt. Und wenn sie jetzt mit Alexander von Pfeil "Eugen Onegin" einstudieren, wird die Aufführung mehr als beeindruckend; sie wird aufwühlend; festspielwürdig; hors classe.
Dafür gibt es viele Gründe. Hier die wichtigsten: Junge Stimmen sind schöner als alte. Zumal im Chor. Und zumal, wenn sie, wie im Mozarteum, ihre Partien mit hervorragenden Gesangslehrern einstudieren. Und wenn Eugen Onegin singt: "Ich bin 26", und er ist 26 (und nicht 50) ... dann ist plötzlich die ganze Künstlichkeit des Operngenres weg, und die Aufführung bekommt Gewicht, Würde und Eindringlichkeit des wahren Lebens.
So wird nun, künstlerisch betrachtet, für Alexander von Pfeil die Station Salzburg unversehens vom Minus zum Plus. Denn es herrschen hier Probenbedingungen, wie man sie seit Walter Felsenstein (1901-1975) an keiner Bühne mehr findet. Hier bereitet sich der hochbegabte Nachwuchs wochen-, ja monatelang auf eine einzige Produktion vor; er lebt, denkt, träumt und fiebert ausschliesslich auf diese eine Premiere hin. Und so wächst er nicht bloss in Rollen hinein, sondern in andere Menschen in einer anderen Zeit – also in ein anderes Dasein. Und wenn jetzt Santiago Sánchez als Lenski einfach nur vorn am Bühnenrand sitzt und Abschied vom Leben nimmt, dann brennt sich dieser Moment in seiner Schönheit und Wahrheit als Sternstunde des Musiktheaters unauslöschlich ins Gedächtnis ein.
Das wäre nicht möglich, wenn sich Alexander von Pfeil auf seinem langen Weg durch die Häuser, von denen das Grossfeuilleton nie spricht, nicht handwerklich und künstlerisch dergestalt weiterentwickelt hätte, dass er jetzt Sänger, die noch keinen Namen haben, in ihrem letzten Studienjahr auf eine Stufe der Vollendung bringen kann, auf die sie später wieder lange werden warten müssen, weil nicht jedes Opernhaus einen von Pfeil, Freyer, Guth oder Carsen verpflichten kann. – Jetzt aber stehen sich Tatjana (Anna Samokhina) und Onegin (Darian Worrell) am Mozarteum gegenüber, und ihr letztes Gespräch, das sonst bloss ein endloses Auseinandergehen ist, wird zum schmerzvollen Kreuzungspunkt zweier Lebensbahnen.
Die Bühne (Eric Droin) ist äusserst karg. Nur ein paar Bretter, die eine Schräge bilden. Doch dann schreibt sich das Drama auf diese Rampe ein. Wenn am Schluss die selben Stufen wiederkehren, ruft der Ort einem die ganze Verheerung ins Bewusstsein, die Eugen Onegin auf seiner Meteoritenbahn durch die russische Gesellschaft gerissen hat. Das nennt man Ökonomie der Mittel. Sie funktioniert nur, wenn die vorangehende Handlung eine Kette von starken Momenten bildete. Um das zu gewährleisten, veranstalten die meisten Regisseure mehr als Alexander von Pfeil und erreichen am Ende gleichwohl weniger. So macht ihn der überlegene Einsatz der Mittel zum Geheimtip.
Im Orchestergraben sitzen Studierende, geleitet vom andern Professor der Klasse, Gernot Sahler. Auch sie hörbar hochbegabt. Auch sie haben eine Reaktionsgeschwindigkeit und ein Auffassungsvermögen, das nur junge Menschen mitbringen. In unseren Gefilden kann man so viel Talent nie auf einem Haufen beisammenfinden, weder auf den Brettern noch im Graben. Sie wurden ausgewählt aus den vielen Bewerbern, die sich vom ganzen Globus her um eine Studienstelle in Salzburg bewarben.
In der Pause mischen sich die Instrumentalisten am Buffet mit dem Publikum. "Sie sind besser als manches Theaterorchester", stellt ein Zuschauer väterlich-anerkennend fest. "Das sagt man uns oft", erwidert der junge Hornist. "Wir sind eben das Mozarteum."
Junge Stimmen sind schöner als alte.
Ein schmerzvoller Kreuzungspunkt.