Die Profis des Berner Ensembles sind im Rahmen des Möglichen gut. © Philipp Zinniker.

 

 

 

Reise nach Tripiti. Fabian Künzli.

Familienoper.                  

Zsolt Czetner, Nina Russi, Ralph Zeger, Marianna Helen Meyer. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. Januar 2017.

 

 

Der Kinderchor der Musikschule Köniz ist der heimliche Star des Abends. Im Vorspiel ist er zwar noch nicht zu sehen; da vernimmt man bei geschlossenem Vorhang nur seine Stimmen. Später findet man seine Mitglieder in graue Plastikhüllen verpackt als singende Müllsäcke an die Rückwand der Bühne gelehnt (Bühne: Ralph Zeger). Am Schluss aber kommen die Kinder mit schwarzen Wuschelperücken und grob karierten Pyjamas nach vorn und feiern das Happy End (Kostüme: Marianna Helen Meyer).

 

Einer der jungen Sänger ist nicht ganz im Spiel. Er lässt sich ablenken von unsichtbaren Geschehnissen in der Kulisse. Dann aber gibt er sich einen Ruck und blickt wieder nach vorn zum Dirigenten Zsolt Czetner. Ein anderer hat vergessen, was er zu tun hat, und schielt zur Nebenfrau, um deren Gebärden zu imitieren. Wieder ein anderer hat den Choreinsatz verpasst und wartet nun mit offenem Mund auf den Refrain: "Reise nach Tripiti, / dort ist es schön wie nie. / Träume nur immerzu, / reise auch du." Wenn der Schlussapplaus aufrauscht, können die kleinen Künstler bis gegen die Rampe hin vorrücken und sich verneigen. Einzelne blinzeln, von den Scheinwerfern geblendet. Andere suchen mit den Augen die Angehörigen im Zuschauerraum. Und dann richten sie sich wieder auf, und dann verbeugen sie sich wieder. Danke, danke. Geschafft!

 

Es ist also vieles nicht vollkommen an der Premiere von Fabian Künzlis Familienoper. Aber gerade für diese Unvollkommenheiten hat es sich gelohnt, die "Reise nach Tripiti" zu besuchen. Was beim Kinderchor in der "Carmen" desaströs wäre, weil es die Illusion zerstört, ist hier charmant, das heisst, ins Deutsche übersetzt, "bezaubernd". In den einzelnen Szenen mit dem Kinderchor der Musikschule Köniz balanciert nämlich das Theater auf dem schmalen Grat zwischen Spiel und Wirklichkeit, und momentweise ist beides gleichzeitig da, das Einstudierte und das Wahre, und zwar in einer subtilen Balance, die einem in einem langen Kritikerleben nicht allzu häufig geschenkt wird.

 

Das alles ist schon da in der ersten Szene, wo sich der unbenannte Darsteller des Max ("Maxekind") aus Köniz mit seinem Teddybären Theodor ("Theobär") schlafen legt.  Genau und deutlich führt er vor, dass er müde ist (Descartes: "clare et distincte"), und wenn er seinen ramponierten Schlafgenossen (das Fell zerschlissen, das linke Ohr ab, auch das Auge) den Zuschauern vorstellt, dann macht er das nicht nur exakt, sondern auch stolz: "Ihr Erwachsenen braucht mich für diese Rolle. Aber schaut nur her: Ich mach' sie euch vor. Und zwar mit Grandezza!"

 

So betreibt das Stadttheater Bern mit dieser Produktion, deren Premiere auf die unübliche Zeit von 18:30 Uhr angesetzt ist, damit die Kinder nachher ins Bett und am nächsten Tag wieder in die Schule kommen, "Fernstenliebe" im Sinne Nietzsches. Das heisst, es übernimmt "die Verantwortung und das Eintreten des gegenwärtigen Menschen für die Zukunft und für die kommenden Geschlechter. Es ist eine Verantwortung, die das lebende Geschlecht ja ohnehin jederzeit trägt, selten aber mit Bewusstsein auf sich nimmt und in seinem Streben betätigt; die Forderung auf eine höhere Solidarität, nicht nur mit den Mitlebenden, sondern mit denen, die alle gute und alle böse Saat der Gegenwart ernten werden." (Nicolai Hartmann)

 

Damit den Kindern aus der Berner Vorortsgemeinde aufgeht, was hinter den Köpfen der Porträtbüsten steckt, die am Kornhausplatz über den Portalen thronen (laut Auskunft des technischen Direktors Reinhard zur Heiden handelt es sich um Schiller, Mozart und Shakespeare), und damit die jungen Menschen erfahren, was für Kräfte die uralte analoge Form des Theaterspielens freisetzt, hat sie das Stadttheater eingeladen auf die Bühne und in den Zuschauerraum.

 

So besehen ist die "Reise nach Tripiti" nicht bloss Familien-, sondern Zukunftstheater. Wer weiss, ob nicht ein neuer Dieter Kaegi der Produktion beiwohnt, der bis 2011 die irische Nationaloper leitete und heute als Intendant Theater Orchester Biel Solothurn vorsteht? Angefangen hat er ja auch mit sieben oder acht Jahren im Kinderchor. Und er, Dieter Kaegi, nahm das Geschehen auf der Bühne so ernst, dass er es mit der Wirklichkeit verwechselte. "Wenn ich in der 'Tosca' als Messdiener auf der Bühne stand, sah ich die Zuschauer nicht. Da klaffte einfach ein schwarzes Loch. Und Tito Gobbi als Scarpia war für mich 'der böse Mann'. Wenn er unvermutet auf die Szene trat und mit seiner durchdringenden Stimme 'Un tel baccan in chiesa! Bel rispetto!' rief, während das ganze Volk in der Kirche erstarrte, machte er mir dermassen Angst, dass ich aufgewühlt nach Hause kam und bei den Eltern schlafen durfte."

 

Aber der überwältigende Eindruck des Bühnengeschehens auf eine kindliche Seele ist eins. Etwas anderes ist es, wenn wir die

"Reise nach Tripiti" mit den Augen von Erwachsenen betrachten und sie neben alles stellen, was sonst auf den Brettern zu sehen ist. Dann fällt uns vor allem auf, wie einfach und bescheiden das Werklein ist und wie hungrig anspruchsvolle Theatergänger vom Tisch müssen. Natürlich sind die Profis des Berner Ensembles im Rahmen des Möglichen gut. Sie geben ihre Kinderbuchfiguren mit Sorgfalt, und am liebevoll gestalteten tapsigen Bären (Carl Rumstadt mit untadeliger Diktion) ist nichts auszusetzen, so wenig wie am engagierten, fröhlichen Spiel von Andries Cloete und den leider armlosen, das heisst der Gestik beraubten singenden Frauen Oriane Pons und Hatice Zeliha Köckek – aber die Kinderbuchfiguren, denen sie ihre Person leihen, sind so flach wie die Geschichte, die H.U. Steger und seine Librettistin Pamela Dürr erzählen. Weil es da nichts zu entdecken gibt, kann der Zuschauer nur gaffen. Zumal die Inszenierung von Nina Russi alles geradehin ausspricht, ohne Augenzwinkern, ohne Nebenhandlung, ohne doppelten Boden.

 

Zur Unbeträchtlichkeit der Produktion trägt auch Fabian Künzlis Partitur bei, die gehalten ist im Charakter der üblichen Musiklehrer-Kompositionen: Gelehrt und sorgfältig, aber auch brav und langweilig. Helvetische Biederkeit satt Schmiss und Chutzpe. Der "Reise nach Tripiti" fehlt das Salz, das den grossen Werken ins ewige Leben hinüberhilft. Für Kinder ab 6 Jahren okay. Für Kinder ab 8 Jahren fraglich. Und für alle älteren eine Enttäuschung.

Was für Kräfte die uralte analoge Form des Theaterspielens freisetzt ...

... ist hier charmant, das heisst, ins Deutsche übersetzt, "bezaubernd".

 
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