Nackt wie Adam mit seinem Pimmel zum Trauermarsch aus Beethovens "Eroica". © Birgit Hupfeld.

 

 

 

Die Vernichtung. Ersan Mondtag und Olga Bach.

Stückentwicklung.                  

Ersan Mondtag. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. Oktober 2016.

 

 

Die Montage der Aufführung erfolgt nach dem Prinzip der Dissoziation. Text, Bühne und Handlung sollen in keiner Weise aufeinander bezogen sein. Oder in einem höheren Sinn vielleicht doch. Oder am Ende vielleicht doch nicht. Jedenfalls sollen die Elemente nicht im Verhältnis der "platten Abbildung" zueinander stehen. Sondern eher dialektisch. Oder kontrapunktisch. Oder provozierend. Oder assoziativ. Auf jeden Fall aber "frei".

 

Zum Prinzip der Dissoziation gehört, dass sich nie und nimmer eins aus dem andern entwickeln darf, selbst wenn sich das Projekt "Stückentwicklung" nennt. Im Lauf des Abends (75 Spielminuten werden angekündigt, 90 werden es) passiert deshalb mal dies, mal das. Alles nach dem Prinzip der Dissoziation.

 

Wohlmeinende erkennen darin möglicherweise die Signatur unserer Zeit. Wir können ja die Themen, die die Aufführung anspricht, auch nicht "auf die Reihe kriegen": Hunde, betriebswirtschaftlich getaktetes Arbeitsleben, Psycho­therapie, Erotik, Drogen, Migration, Faschismus, Ästhetik, Mode, Kopulation, Homo, Hetero, unpersönliches Beziehungsleben, leeres Geschwätz... Es kann sein, dass ich das eine oder andere Thema vergessen habe, aber im wesentlichen geht es in der "Vernichtung" um das. Also um alles. Oder um nichts. Jedenfalls um eine auseinandergebrochene Welt. Der Globus wird, wie die Bühne (Ersan Mondtag) zeigt, zum Spielball, der von unkontrollierten Impulsen mal da, mal dorthin geworfen wird.

 

Vor einem Jahr eröffnete das Schauspiel in Bern die Spielzeit mit "Hiob" von Joseph Roth, darauf folgten "Eine Sommernacht" von David Greig, "Das Erdbeben in Chili" von Kleist und einen Monat später "Die Töchter des Danaos" von Aischylos/Meister. Jede dieser Produktionen hatte ihre eigenständige Sprache, in der Fernes, Abgelegenes, Vergessenes lebendig wurde, und zwar in einem Stil, den Herder "idiotisch" nannte, das heisst "zugleich korrekt und zutreffend".

 

In diesem Jahr nun hat das Theater zu Beginn der Spielzeit keine eigenständige Sprache. Statt mit Macht zu reden aus dem Fundus seiner zweieinhalbtausend­jährigen Geschichte, spiegelt es im Echoraum der Bühne nur noch die uneigentliche, leere, floskelhafte Sprache unseres Alltags ab, und statt uns weiter, ja gar "fort" zu bringen, wiederholt es bloss, was wir schon längst wissen und worunter wir schon längst leiden. Dabei lehrte schon der Gerer Rabbi, wie uns Martin Buber überliefert, seinen Schülern:

 

"Wer ein Übel, das er getan hat, immerzu beredet und besinnt, hört nicht auf, das Gemeine, das er tat, zu denken, und was man denkt, darin liegt man, mit der Seele liegt man ganz und gar darin, was man denkt – und so liegt er doch in der Gemeinheit: der wird gewiss nicht umkehren können, denn sein Herz wird stockig werden, und es mag noch die Schwermut über ihn kommen. Was willst du? Rühr' her den Kot, rühr' hin den Kot, bleibt's doch immer Kot. Ja gesündigt, nicht gesündigt, was hat man im Himmel davon? In der Zeit, wo ich darüber grüble, kann ich doch Perlen reihen dem Himmel zur Freude. Darum heisst es: 'Weiche von dem Bösen und tue das Gute' – wende dich von dem Bösen ganz weg, sinne ihm nicht nach und tue das Gute. Unrechtes hast du getan? Tue Rechtes ihm entgegen."

 

Dieses Entgegenhalten hat die "Stückentwicklung" von Ersan Mondtag und Olga Bach versäumt. An der Oberfläche ja. Da spannt die Bühne einen Raum reiner Künstlichkeit auf. Nichts ist da echt, nicht einmal die Nacktheit der Schauspieler. Um das auch für die hintersten Zuschauerreihen deutlich zu machen, muss sich Jonas Grundner-Culemann deshalb am Ende aus dem Nacktheitskostüm schälen und nackt wie Adam mit seinem Pimmel zum Trauermarsch aus Beethovens "Eroica" Verrenkungen machen, tanzen und herumplanschen.

 

So ist alles auf der Bühne bloss künstlich (mit Ausnahme des Wassers und Grundner-Culemanns Haut), herbeizitiert und synkretistisch zusammengestellt wie die Inszenierung der Hallen in den Palace Hotels um 1900: Ein paar ausgestopfte Eber, Laubbäume in Kübeln, ein als Teich getarntes Wasserbecken, eine Schaukel, Mohnblumen, Schilfkolben, Gras, Nachbildungen antiker Büsten... Man kann den einzelnen Elementen Bedeutung zuschreiben, muss aber es nicht, denn alles geht eh nicht auf und ist damit wurscht.

 

Hätte indes die Aufführung das Stück nicht mit dem Prinzip der Dissoziation unterlaufen, sondern in ein realistisches Dekor versetzt, wäre zutage getreten, wie platt Olga Bachs Sprache in Wirklichkeit die Wirklichkeit abbildet. Wenn man sich vom rätselhaft-unmotivierten Geschehen auf der Bühne nicht ablenken lässt, sondern in Gedanken das Gesagte in herkömmliche Szenen teilt, dann tritt zutage, dass der Text widerspruchslos in die klischierten Situationen des bundesdeutschen Alltagslebens zurückfällt, aus denen er hergenommen wurde: Besuch bei Freunden, studentisches Gelaber im AStA, Therapiestunde, Pegida-Umzug, Anmache, Drogen­beschaffung etc. pp. - Wohlmeinende mögen daraus eine Klage über die ausweglose Epigonalität unserer Zeit heraushören. Alles ist gesagt. Nichts trifft zu. "Wortaufschüttung" (Celan). "Oben der flutende Mob ... Abbild und Nachbild / kreuzen eitel zeithin."

 

Was waren das für Zeiten, als ein Dichter noch schreiben konnte:

 

   O Lust des Beginnens! O früher Morgen!

   Erstes Gras, wenn vergessen scheint

   Was grün ist! O erste Seite des Buchs

   Des erwarteten, sehr überraschende! Lies

   Langsam, allzuschnell

   Wird der ungelesene Teil dir dünn! Und der erste Wasserguss

   In das verschweisste Gesicht! Das frische
   Kühle Hemd! O Beginn der Liebe! Blick, der wegirrt!

   O Beginn der Arbeit! Öl zu füllen

   In die kalte Maschine! Erster Handgriff und erstes Summen

   Des anspringenden Motors! Und erster Zug

   Des Rauchs, der die Lunge füllt! Und du

   Neuer Gedanke!

 

Im Unterschied zur "Vernichtung" kann man hier keine Zeile weglassen. Und das Ende des Gedichts ist nicht ein Ende, sondern ein Anfang: "Und du / Neuer Gedanke!" Es hilft nichts. Wir müssen weniger schnell zufrieden sein. Das Prinzip der Dissoziation führt nicht weiter. Wir müssen mehr verlangen. 

Laubbäume in Kübeln, ein als Teich getarntes Wasserbecken, eine Schaukel... 

Im Lauf des Abends passiert mal dies, mal das.

 
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