Alte Meister. Thomas Bernhard.
Schauspiel.
Dušan David Pařizek. Volkstheater Wien.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Oktober 2016.
Der dritte Regie-Jungstar innert einer Woche. Wieder in einem Alter, in dem andere erst daran denken dürfen, das Kinderstück zu inszenieren. Und wieder auf einer Bühne mit angestaubtem Image. Wie die meisten seiner Kollegen zeichnet der Jungstar auch diesmal für Fassung, Inszenierung und Bühne. Alles aus einer Hand. Teamwork ist out. Transdisziplinarität auch. (Dabei begann man sich eben an das Wort zu gewöhnen). Heute jedoch ist wieder das Universalgenie in. Die Universalität macht, sagt man, die "Handschrift" des Genies aus. Ausserdem senkt sie die Produktionskosten.
Der Regie-Jungstar darf, nein: muss von der Vorlage, die er inszeniert, keine Ahnung haben. Er hat dafür, wie Siegfried, der Drachentöter, die Unschuld der reinen Einfalt. Die Dramaturgien und das Feuilleton nennen das einen "frischen, unbekümmerten Zugriff". Der Jungstar darf, nein: muss danebenhauen. Er darf, nein: muss die Gewichte verschieben. Er darf, nein: muss den Kern der Sache verpassen. Nur so kommt zustande, was die Dramaturgien und das Feuilleton eine "neue Lesart" nennen.
Dieses Verfahren hat natürlich einen besonderen Thrill, wenn sich nur wenige Fussminuten nebenan, "auf der drüberen Seite des Rings", das Burgtheater befindet, an dem alle grossen Werke Thomas Bernhards unter der Regie von Claus Peymann zur Uraufführung kamen. Wenn dort, im Haus von Semper und Hasenauer, die Bernhard-Orthodoxie beheimatet ist, so gibt es jetzt hier, am Volkstheater, den Umsturz, die Revolution, die Umwertung der alten Werte.
Als Vorlage wird deshalb nicht ein Bernhard-Stück genommen, sondern ein Roman. Vorgelesen dauert der Roman 7 h 10. (Sehr empfehlenswert: Die sechs CDs mit Thomas Holtzmann.) In der Bühnenfassung von Dušan David Pařizek dauert das Ganze 1 h 45. Gänge und Sprechpausen abgerechnet: 1 h 10. - Zu diesem Zweck waren Kürzungen unumgänglich. Das kunstreiche In-Perspektive-Setzen des Anfangs, das aus dem Roman mehr macht als bloss ein Manifest gegen den Austro-Faschismus: Gestrichen.
Der Roman beginnt mit einem Erzähler, der berichtet, wie er im kunsthistorischen Museum einen Aufseher beobachtet, der einen Besucher beobachtet, der durch Betrachtung des Bildes vom weissbärtigen Mann beobachtet, wie der Maler bei Betrachtung eines Kopfes vorgegangen ist. Also Reflexion der Reflexion der Reflexion der Reflexion. Die französische Literaturwissenschaft nennt dieses Verfahren "mise en abyme". Hier handelt es sich um eine "mise en abyme au quatrième degré". Also vierfache In-Abgrund-Setzung. Gestrichen.
Gestrichen auch die Reflexion über die Vermittlung der Wirklichkeit durch Sprache. Der Roman spricht nämlich nicht in direkter, sondern in indirekter Rede. Die Distanz zwischen der Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Vermittlung wird für den Leser der "Alten Meister" hervorgehoben durch wiederholtes "sagte er" oder "sagte Reger". Auf diese Brechung verzichtet die Aufführung. Sie bringt stattdessen platte Unmittelbarkeit. Reine Einfalt statt Komplexität. Darin liegt die Handschrift des Regie-Jungstars.
Da das Theater nicht ohne Darsteller auskommt, hat Dušan David Pařizek die Figuren Irrsiegler und Reger auf die Bühne gebracht, das heisst den Museumsaufseher und den Bildbetrachter. Es handelt sich da um eine uralte Konstellation, die bis in die Anfänge des Theaters zurückreicht: Erster Darsteller - zweiter Darsteller. Protagonist - Deuteragonist.
Der Fokus der Inszenierung ruht jetzt auf ihrem Zusammenspiel. Anfangs realisiert es sich als Herr-Knecht-Beziehung. Zu allem, was Reger sagt, nickt Irrsiegler beflissen. Am Schluss der Aufführung aber wächst das Verhältnis aus zur Symbiose. Reger zieht die Hose aus, setzt sich mit seinen schön gebräunten Beinen kokett auf den Hocker und zieht sich Stöckelschuhe an. Derweil entledigt sich Irrsiegler im Hintergrund ebenfalls seines Anzugs und trippelt dann in einem glänzenden, rostroten Frauenkleid, das seine Schultern freilässt, auf Stöckelschuhen zu Reger auf den Hocker.
So wird im Laufe von 1 h 45 auf der Bühne des Volkstheaters vom Regie-Jungstar wieder mal die alte Geschichte des männlichen Paars durchgespielt: Laurel und Hardy, Lucky und Pozzo, Wladimir und Estragon, Tim und Kapitän Haddock. Die Aufführung aber befindet sich damit in jeder Beziehung weit weg von den alten Meistern.
Das kunstreiche In-Perspektive-Setzen: Gestrichen.