3.31.93. Lars Norén.
Schauspiel.
Ingo Berk, Damian Hitz, Patrik Zeller, Janosch Abel. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 25. September 2016.
Vor einem Jahr kam im Schauspiel Köln das letzte Stück des schwedischen Dramatikers Lars Norén zur Uraufführung. Es besteht aus lauter Splittern. Das zeigt auch sein Titel. Die Zahlenfolge 3.31.93 bezeichnet nämlich 3 Akte zu 31 Szenen, also insgesamt 93 Momentaufnahmen. - Für die Schweizer Erstaufführung hat Regisseur Ingo Berk den Text um mehr als die Hälfte gekürzt, so dass die Vorstellung nur noch zweieinhalb Stunden dauert statt sechs.
Immer noch ein anstrengender Abend. Mein Nachbar zur Linken, kein ADHS-Kind, sondern ein gesetzter Bankprokurist, stöhnte und schnaufte und gähnte während der ganzen Aufführungsdauer. Mal schloss er die Augen und versuchte zu dösen, mal zog er das Handy, um abzuschätzen, wie lange das Martyrium noch dauere. Er kam offensichtlich nicht ins Stück. Gleichwohl klatschte er am Ende heuchlerisch mit den andern und unterstützte damit einen Applaus, der zwar wohlwollend, aber lange nicht so schrill und frenetisch ausfiel wie bei den in Bern, Biel und Solothurn angesagten mediokren Sachen, so dass für das Berichtsgebiet der "Stimme" wie für die Welt das Paradox zutrifft: Je schwächer der Applaus, desto stärker die Leistung. Und umgekehrt.
Es ist also ein gutes Zeichen, dass der Premierenapplaus zwar wohlwollend, aber nicht überwältigend ausfiel. Daran ist ablesbar, dass die Zuschauer erschöpft waren vom Aufpassen auf die Nuance, vom Mitdenken, vom Auseinanderhalten und Zusammenfügen der Puzzleteile, die ihnen die minimalistische, haikuartige Inszenierung Ingo Berks mit unerbittlicher Strenge vorlegte, bis sich, lange nach der Pause, die Zusammenhänge zum Gesamtbild formten, das in der letzten Szene markant zum Abschluss kam.
Mit einem Anflug von ärgerlicher Ungeduld verwies Heidi Maria Glössner ihre Familienmitglieder aus dem Spitalzimmer, um sich dann zu ihrem Mann aufs Totenbett zu legen. Das Verlöschen einer vierzigjährigen Ehebeziehung und der Anfang des Witwentums, die Erleichterung über das Ende einer traurigen Demenzphase und der Wunsch, im Dahingegangenen den einst geliebten Mann wiederzufinden, fielen zusammen in einer rührenden Gebärde von verhaltener Heftigkeit.
So entfaltete Ingo Berks Fassung von "3.31.93" mit Geduld, Akribie und Eindringlichkeit einen Abend lang das berühmte Dantonsche Wort: "Wir wissen wenig voneinander. Wir sind Dickhäuter, wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab, - wir sind sehr einsam." In den Szenen aber, wo so etwas wie aufkeimende Liebe erkennbar wurde, flüsterte Jean Paul: "Fleisch- und Bein-Gitter stehen zwischen den Menschen-Seelen, und doch kann der Mensch wähnen, es gebe auf der Erde eine Umarmung, da nur Gitter zusammenstossen und hinter ihnen die eine Seele die andre nur denkt. – Wann weiss denn der Mensch, dass gerade er, gerade dieses Ich gemeinet und geliebet werde? Nur Gestalten werden umfasset, nur Hüllen umarmt, wer drückt denn ein Ich ans Ich? – Gott etwa."
Im Bühnenbild von Damian Hitz erinnert der Raum, der das eine Ich vom andern trennt, an Edward Hoppers "Nighthawks" von 1947, wo wir durch eine Glasfront in ein erleuchtetes Nachtcafé blicken. Hier wie dort, auf der Bühne wie im Gemälde, hat die Darstellung der Verlassenheit emblematische Kraft.
Lars Norén bringt die existentielle Isolation dadurch ans Licht, dass er über seine Menschen ein Verhängnis hereinbrechen lässt. Dieses Verhängnis spaltet die Zeit in ein Vorher und Nachher und die Beziehung zwischen den Menschen in Betroffene und Nichtbetroffene. Unter diesen Bedingungen ist es vorbei mit den "pastimes", das heisst dem "halbritualisierten Austausch über Gemeinplätze wie Wetter, Geld, Tagesaktualitäten oder Familienereignisse" (Eric Berne). Nun strecken wir die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe.
In den Umbaupausen machen Musik und Sounddesign von Patrik Zeller den Bruch ohrenfällig: Da wird etwas zerrissen, da bricht etwas entzwei, da dröhnt das Grauen wie Donnerhall aus den Lautsprechern. Nun flattert die arme Seele hin und her und findet keinen Ort, an dem sie ruhen könnte. In beklemmenden Travellings zeigen die Videoeinspielungen von Janosch Abel, wie unbehaust die Menschen sind, während sie am Esstisch sitzen, auf den Zug warten oder miteinander in ein Hotelbett steigen. Die Projektion des Unterbewussten, ironischerweise an den oberen Bühnenrand geworfen, fusst auf der Beobachtung von Henri Frédéric Amiel, dass jeder Landschaft ein Zustand der Seele entspricht. (Un paysage quelconque est un état de l'âme.)
Das Verhängnis (Tod eines Kindes, Versinken im Alkohol, Untreue, Krankheit, Überforderung, Feuersbrunst, Invalidität) spaltet die Beziehungen. Es gibt nun die einen, die so geblieben sind wie früher, und die andern, die nicht mehr so sind wie früher. Und im harten Licht der Bühne (Gestaltung: Hanspeter Liechti) tritt zutage, wie wenig Zuspruch und guter Wille den Abgrund überbrücken können. Wir sind sehr einsam.
Das Publikum bekommt diese Geworfenheit mit, indem es zuschaut, wie ein Meisterensemble die Realitätssplitter millimetergenau auf die Laufstegbühne bringt, die die räumliche und seelische Distanz der Menschen unterstreicht. Die eine Zuschauerhälfte blickt dabei über die Theaterfiguren hinweg auf die andere Zuschauerhälfte, und so kann niemand im Saal der Tatsache ausweichen (auch nicht der Nachbar zur Linken), dass den gespielten Unbekannten auf der Bühne mit ihren fiktiven Geschichten die wahren Unbekannten im Zuschauerraum mit ihren realen Geschichten entsprechen.
Damit machte die leise und genaue Inszenierung Ingo Berks das Theater zum Spiegel des Lebens. Niemand würde "sich über einen Unfall, eine Widerwärtigkeit entrüsten und aus der Fassung geraten, wenn die Vernunft ihm stets gegenwärtig erhielte, was eigentlich der Mensch ist: das grossen und kleinen Unfällen ohne Zahl täglich und stündlich preisgegebene, hilfsbedürftigste Wesen, welches daher in beständiger Sorge und Furcht zu leben hat. Der Mensch ist ganz dem Zufall preisgegeben, sagt schon Herodot." (Arthur Schopenhauer)
Die Darstellung der Verlassenheit hat emblematische Kraft.
Der Mensch ist das grossen und kleinen Unfällen preisgegebene Wesen.
Eine minimalistische Inszenierung von unerbittlicher Strenge.