Don Pasquale. Gaetano Donizetti.
Oper.
Franco Trinca, Pierre-Emmanuel Rousseau. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 24. September 2016.
In einem Gespräch zu Spielzeitbeginn mit Peter Wäch von der "Berner Zeitung" (BZ) bekannte der Intendant von Theater Orchester Biel Solothurn, er halte nichts von abstraktem "Fingerzeig-Theater", namentlich nicht im Bereich der Oper. Und dazu redete Dieter Kaegi, so die BZ, nun "Klartext": "Über Jahre wurde uns eine deutsche Lesart aufgezwungen. Alles Sinnliche und Ästhetische war verpönt und wurde fernab von mediterranen, französischen Einflüssen intellektuell überhöht." Die Eröffnungspremiere am Jurasüdfuss, "Don Pasquale", führt nun vor, was unter mediterranen, französischen Einflüssen zu verstehen sei.
Zunächst einmal: Der Vorhang kommt immer noch zum Einsatz, im Unterschied zur deutschen Theaterwelt, wo das Publikum schon beim Hereinkommen Sänger und Akteure auf offener Bühne beschäftigt sieht. In Biel-Solothurn dagegen wird die Ouvertüre rein instrumental gegeben. Sie besteht aus einer Reihe von starken musikalischen Themen, die effektvoll vom Dur ins Moll und vom Forte ins Piano wechseln. Sie nimmt damit das Unheimliche der ganzen Partitur vorweg: Dass sie ausschliesslich aus starken musikalischen Themen besteht, als habe Donizetti noch sein Bestes in die Nachwelt hinüberretten wollen, bevor die Dunkelheit über seinem Geist zusammenschlug.
Weil jetzt aber im Theater Biel-Solothurn die Ablenkung durch Aktion wegfällt, vernimmt das Ohr illusionslos, dass der Anfang verwackelt ist. Liegt es an der Zeichengebung Franco Trincas? Liegt es daran, dass er zu streng führt, die Exekution auf Tempo und Lautstärke hin anlegt, so dass die Phrasierungen den Charakter des Approximativen bekommen und die schönen Stellen beiläufig vorbeiziehen und sich nicht durch betörendes Aufblühen als lyrische Kostbarkeiten offenbaren?
Wenn darauf der Vorhang für den ersten Akt auseinandergleitet, zeigt sich als Merkmal der mediterranen, französischen Tradition überwältigende optische Opulenz. Bühnenbild und Kostüme (für beide zeichnet Regisseur Pierre-Emmanuel Rousseau) sind geprägt vom Horror vacui. Im ganzen Bühnenraum findet sich kein leerer Fleck, keine neutrale Fläche. Wände und Böden sind überzogen von einem gnadenlos insistierenden Willen zum Ornament. Dazu werden die Kostüme ausgestattet mit Pailletten und Rüschen. Das mediterrane Auge mag diese Opulenz vielleicht als sinnlich und ästhetisch auffassen; der deutsche Geist aber zog schon 1910 mit Vehemenz dagegen los. In seinem Manifest "Ornament und Verbrechen" erklärte der Wiener Architekt Adolf Loos: "Der Papua tätowiert seine Haut, sein Boot, sein Ruder, kurz alles, was ihm erreichbar ist. Er ist kein Verbrecher. Der moderne Mensch, der sich tätowiert, ist ein Verbrecher oder ein Degenerierter."
Das kunstgewerbliche Ausschmücken aller Flächen, wie es dem 19. Jahrhundert entsprach, verlor nach diesem Manifest alles Ansehen in der progressiven Welt. "Nun gut, die Ornament-Seuche ist staatlich anerkannt und wird mit Staatsgeldern subventioniert", räumte Loos ein. "Ich aber erblicke darin einen Rückschritt. Ich lasse den Einwand nicht gelten, dass das Ornament die Lebensfreude eines kultivierten Menschen erhöht, lasse den Einwand nicht gelten, der sich in die Worte kleidet: 'Wenn aber das Ornament schön ist ...!' Mir, und mit mir allen kultivierten Menschen, erhöht das Ornament die Lebensfreude nicht. Wenn ich ein Stück Pfefferkuchen essen will, so wähle ich mir eines, das ganz glatt ist, und nicht ein Stück, das ein Herz oder ein Wickelkind oder einen Reiter darstellt, der über und über mit Ornamenten bedeckt ist. Der Mann aus dem fünfzehnten Jahrhundert wird mich nicht verstehen. Aber alle modernen Menschen werden es." - Im Gefolge von Loos' kritischen Ausfällen kam es im Theater zur abstrakten, leergeräumten Bühne, mit der Adolphe Appia und Oskar Schlemmer zu experimentieren begannen und die nach dem Zweiten Weltkrieg in Neubayreuth unter Wieland Wagner die höchste Weihe fand.
Dass Loos mit seinen Ansichten die Moderne so nachhaltig prägen konnte, sieht Alfred Polgar in der Schwerhörigkeit des Architekten begründet. Sie führt dazu, dass Loos "so laut, im übertragenen Sinne: laut, seine Meinung sagt. Er erzwingt sich Gehör." Und der Wiener Theaterkritiker prophezeit: "Seinem nie ermüdenden, leidenschaftlichen, hohnvollen Kampfe gegen das Ornament, gegen die Vermanschung von Kunst und Handwerk, wird die neuere Kulturgeschichte, wie immer sie sehen und werten mag, ein großes Blatt widmen müssen."
Bei "Don Pasquale" am Jurasüdfuss handelt es sich also, mit den Augen der Moderne betrachtet, um einen Rückschritt. Das gute Alte, das vor der Moderne war, ist hier jetzt wieder zu sehen und, je nach Richtung des Geschmacks, auch zu geniessen. Und da das Opernpublikum in seiner Mehrzahl konservativ ist, ging die Rechnung an der Bieler Premiere auf. "Offenbar treffen wir den Publikumsnerv", sagte Intendant Kaegi zur BZ angesichts seiner famosen Auslastungszahlen.
Der Zwang, jede Leere der Aufführung mit Mustern, Ornamenten und vorwiegend ästhetisch motivierten Lichtwechseln zu füllen, charakterisiert auch die Darstellerführung. Wer auf der Bühne nichts zu singen hat, muss sich einer Nebenhandlung zuwenden. So streichelt Don Pasquale eine Kognakflasche, Malatesta zupft an seinen Rüschen, Ernesto kippt Rotwein hinter die Binde und Norina zieht ihre rosaroten Strümpfe straff. Der Chor mäandriert in dekorativ gemusterten Pelerinen über die Bühne und zeigt mit den Armen mal da, mal dorthin.
So betrachtet, ist es nichts als konsequent, dass die Inszenierung auf psychologische Durchdringung der Personen verzichtet. Der Regisseur sieht in "Don Pasquale" die Verkörperung archaischer Komödienfiguren: "Sie sind mit Ticks ausgestattet, mit Attributen, die sie besonders machen", sagt der Regisseur im Programmheft-Interview und unterstreicht seine Auffassung durch Kostüme, die Pierrot, Harlekin und den Dottore herbeizitieren. Malatesta und Norina, erklärt Pierre-Emmanuel Rousseau, habe er "als eine Art teuflisches Zwiegespann konzipiert, ein Gangster-Paar, welches seine Hände nach Don Pasquales Vermögen ausstreckt". Ob man das auf der Bühne erkennt? Ja, wenn man die Umarmungen der beiden nicht psychologisch als inzestuöse Geschwisterliebe deutet, sondern als Ausdruck "teuflischer" Verstrickung "wie Merteuil und Valmont in 'Gefährliche Liebschaften". Man kann das als Idee annehmen. Allerdings warnen die Dramaturgien der deutschen Theaterwelt: "Ideen sind wie Läuse im Pelz. Die hat jeder."
Was nun das Gesangliche angeht, so war der angesehene Kritikerkollege in der Pause von der Produktion angetan. Er fand die Leistung des Ensembles erfreulich solide, und Anne-Florence Marbot habe nachgewiesen, dass sie reif für sei die Rolle der Norina. Ich zitiere die Expertenmeinung, weil meinen unmassgeblichen Ohren alles zu laut und zu undifferenziert vorkam. Wenn der Kenner sagte, er habe im berühmten Quartettfinale des zweiten Akts jedes Wort verstanden, mündete für mich das Crescendo ins "tutti fortissimi" bloss in breiartiges Gedröhn.
Dabei zeigte am 30. November 1984 der damalige Chefdirigent Ivan Anguélov in einer "Don Pasquale"-Inszenierung Georges Delnons, dass im kleinen Haus am Burgplatz auch zarte Klänge möglich sind. Und zuletzt war die Kultur des Mezzoforte, die Kultur des Mezzopiano, die Kultur der ätherischen Klänge, die Kultur des Verhauchens zu hören in der "Traviata" unter Jérôme Pillements Dirigat. Diese Kultur der Musikalität steht also noch zur Disposition. Aber sie wird wiederkommen. Es stehen noch vier Opernproduktionen auf dem Spielplan.
Der Chor zeigt mal da, mal dorthin.
Das Bühnenbild bietet überwältigende optische Opulenz.