Könner können eine Figur aufbauen und packend durch die ganze Handlung führen. © Annette Boutellier.

 

 

 

Im weissen Rössl. Ralph Benatzky.

Operette.                  

Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 16. September 2016.

 

 

Immer, wenn sich das Publikum im Eingangsbereich staut, weiss der Kundige: "Sie spielen bei offenem Vorhang!" Da wird der Einlass erst fünf Minuten vor Beginn der Vorstellung freigegeben. So auch diesmal. Während das Publikum im gestuften Zuschauerraum seine Plätze sucht und aufsucht, sitzt das Orchester mit gestimmten Instrumenten still im Graben und wartet auf den Einsatz. Derweil ist auf der Bühne schon etwas los. So auch diesmal. Zwei als Kellner kostümierte Schauspieler rufen weiteren als Kellner kostümierten Figuranten anfeuernde Befehle zu. Und da ist auch schon - bevor noch der Dirigent den Taktstock gehoben hat und der erste Ton des Vorspiels zu hören war – die Produktion im Eimer.

 

Schaupieler und Figuranten, die schusselige Improvisation spielen müssten, spielen schusselig improvisiert, das heisst ungenau, unglaubwürdig, ungeregelt, unprofessionell. Und damit zeigt sich – noch bevor in normalen Häusern der Vorhang aufginge – die Krux dieser ganzen langen, uninspirierten Aufführung: Alles, was Könner können, fehlt hier.

 

Könner können singen. Könner können tanzen. Könner können eine Figur aufbauen und packend durch die ganze Handlung führen bis zum Schluss. Könner können Intensität ausstrahlen, auch wenn sie nicht beschäftigt sind. Auf der Bühne tun Könner nicht "so, als ob", sie "sind".  Als Regisseure können Könner beleuchten. Könner können Auf- und Abgänge regeln. Könner können den Chor befeuern und beleben. Mit einem Wort: Könner können führen.

 

Könner verfügen über eine lange handwerkliche Erfahrung. Aus ihr heraus können sie selbst im flachsten Operettengebilde die Momente des Durchhängens vertuschen, aufhübschen, interessant machen und das Publikum mit sicherer Hand zum nächsten starken Augenblick tragen. Könner nämlich haben eine überdurchschnittlich stark entwickelte Erfindungsgabe und Spielintelligenz. Mit ihr können sie Requisiten und Bühnenbildelemente dergestalt in die Handlung einbeziehen, dass durch ganze Akte hindurch Sinnzusammenhänge entstehen – und damit im Zuschauer eine Spannung und Erkenntnislust, die sich beim Aha-Erlebnis durch Gelächter entlädt.

 

Mit andern Worten: Könner können Pointen setzen. Auf diese Weise können Operetten und dergleichen bescheidene, leichtgewichtige Werklein durch die kluge Staffelung von Vorbereitung, Anspannung und Entladung zu belebten Gebilden werden. Im Taumel gehen dann die Zuschauer in die Pause, und verzaubert kommen sie nach Hause. Sie können nicht angeben, wie das Ganze zustande kam; es war zu reich, es war zu rasch, es war zu gescheit. Sie wissen nur noch, dass sie von einem Entzücken ins andere fielen. So, wenn Könner am Werk waren.

 

Wenn man den Komikern eine besondere Dämonie zuschreibt (man kann das beobachten bei Siegfried Walther in der Josefstadt, bei Nicholas Ofczarek an der Burg oder bei Martin Leutgeb in Stuttgart) so erfährt man bei jedem ihrer Auftritte eine besondere – eben dämonische – Wucht. Die Alten hatten dafür den Begriff der komödiantischen Kraft (vis comica). Sobald ein solchermassen Begabter die Füsse auf die Bretter setzt, entwickelt er seine Figur Schicht um Schicht, mit einer Souveränität, die der Ruhe gleichsieht, und der Könner prägt seine Darstellung mit ihrer ganzen Eigentümlichkeit so tief in Hirn und Herz des Zuschauers, dass er sie sein Leben lang nicht mehr vergisst: Helmut Lohner (Kammerschauspieler seit 1992), der den Leopold gibt, und Fred Liewehr (ebenfalls Kammerschauspieler), der den Kaiser verkörpert. So gesehen in der Volksoper Wien am 31. Jänner 1977.

 

Bei solchen Komödianten begnügten sich so vornehme Regisseure wie Ernst Haeussermann (1916-1984) und Leopold Lindtberg (1902-1984), die Inszenierung darauf hin anzulegen, dass die Könner ihr ganzes Talent uneingeschränkt zur Darstellung bringen konnten. Die nächste Generation - Jean-Pierre Ponnelle (1932-1988), Herbert Wernicke (1946-2002) und Luc Bondy (1948-2015) - brachte darüber hinaus ein Konzept mit, das aus der Essenz des Werks geschöpft war und damit jedem szenischen Moment Sinn und Funktion zuwies, so dass ausgerechnet das unterschätzte leichte Genre am meisten neue Aspekte zu bieten begann und beim Zuschauer in unerwartetem Mass Augenlust und Denkvermögen kitzelte. – Aber für einen solchen Erfolg sind, wie gesagt, ein starkes Konzept, eine sichere Hand, ein genaues Auge, eine reiche Erfahrung und eine lebendige Spielintelligenz unabdingbar.

 

Was herauskommt, wenn all das Erfoderte fehlt, führt nun das "weisse Rössl" in Bern mit deprimierender Folgerichtigkeit vor: Ungeregelte Einzelzüge, leere Aktions- und Spielmomente, unverständliche Handlungsführung und ein Orchester, das von der rauschenden Klimaanlage so bedrängt wird, dass es sich eng an die Partitur hält, statt mit Schmiss und Schmalz die Aufführung mit überlegener Gelassenheit zu begleiten.

 

Mit seiner sogenannten Berner Fassung des "weissen Rössls" hat der Kubus auf dem Waisenhausplatz zwar die sogenannten theaterfernen Schichten anlocken und niederschwellig ins Haus führen können. Denn die theaterfernen Schichten stellen keine Ansprüche und glucksen gern. Derweil aber schlichen einzelne theaternahe Zuschauer auf den Zehenspitzen aus dem Saal oder schlugen lautlos die Hände überm Kopf zusammen.

Auf der Bühne tun Könner nicht "so, als ob", sie "sind".

Könner können den Chor befeuern und beleben.

 
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