In der sogenannten Balkon-Szene "erscheint" Julia - texttreu - nicht hinter einer Brüstung, sondern "oben an einem Fenster". © Vincent Pontet / coll. Comédie-Française.

 

 

 

Romeo und Julia. William Shakespeare.

Schauspiel.                  

Eric Ruf, Comédie-Française.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. Oktober 2016.

 

 

Der Prolog ist nicht gestrichen. Ein Schauspieler tritt vor den Vorhang und berichtet von zwei Häusern, "beid an Ansehn gleich, im schönen / Verona, unserm Schauplatz". Er kündigt an, wer im Zentrum des Spiels stehen wird: "Ein liebend Paar, das glühend sich erstrebt". Das vernimmt der Zuschauer zwar nicht in der Übersetzung von August Wilhelm Schlegel, aber in der fast gleich alten und gleich ehrwürdigen "traduction" von François-Victor Hugo. Denn die Geschichte der beiden Liebenden wird diesmal nicht in einem deutschen Stadttheater aufgeführt, sondern in der Comédie-Française, mithin der führenden Bühne der Grande Nation. Auch hier führt uns aber die "erste Szene" des "ersten Aufzugs" auf "einen öffentlichen Platz", wo die Montagues und Capulets mit den "Bürgern von Verona, verschiedenen Männern und Frauen, Verwandten beider Häuser" durcheinandergehen.

 

In der sogenannten Balkon-Szene "erscheint" Julia - texttreu - nicht hinter einer Brüstung, sondern "oben an einem Fenster". Dazu ist auch, wie vom Werk verlangt, die Beleuchung zurückgenommen. Julia: "Wer bist du, der du, von der Nacht beschirmt, / Dich drängst in meines Herzens Rat?" – Die Hochzeitsnacht (dritter Aufzug, fünfte Szene) verbringt das Liebespaar nicht in einem U-Boot, sondern in "Julias Zimmer". Hier ist es wiederum dunkel, denn "der Tag ist ja noch fern". Wir hören vom "Granatbaum dort" die Lerche schlagen. Als es aber dämmert und der Chor der Vögel einsetzt, merkt Julia, was es geschlagen hat: "Es tagt, es tagt! Auf! eile! fort von hier!" – Im fünften Aufzug endet die Aufführung, wie Shakespeare es sich vorgestellt hat, im "Gewölbe", in dem "das Familienbegräbnis der Capulets" untergebracht ist.

 

Wer nach dieser Beschreibung meint, er brauche nicht nach Paris zu fahren, weil dort "ja eh nur" gezeigt werde, was im Text steht, zieht den falschen Schluss. Denn eine Aufführung, die der Geschichte folgt, braucht deswegen noch lange nicht fad zu sein. Und warum nicht? Weil Shakespeare vitaler ist als alle Theatermoden. Wer sich auf ihn einlässt, wird von ihm getragen – um nicht zu sagen: fortgerissen bis zum Ende, und er durchläuft dabei die mannigfachen Klimazonen von der zotigen, lustspielhaften Ausgelassenheit des ersten Aufzugs ("dies ist die Hexe, welche Mädchen drückt, / Die auf dem Rücken ruhn, und ihnen lehrt, / Als Weiber einst die Männer zu ertragen") über den Blitz der Liebe ("Wer ist das Fräulein?"), den jäh aufwallenden Zorn ("Er zieht.") bis zur blanken Verzweiflung ("O mein Herz! mein Weib!").

 

Und deshalb muss man nach Paris fahren: Um diesen harten Gang vom sonnenhellen öffentlichen Platz in die dunkle Gruft mitvollziehen zu können. Denn an der Comédie-Française, dieser Vorzeigebühne, findet sich noch die Kultur der subtilen Gradation. Jedes Detail hat hier seinen Sinn und seine Berechtigung. Die Kunst des unmerklichen Vorantreibens aber erfolgt mit einer Geschwindigkeit, Leichtigkeit und beiläufigen Eleganz, dass der Besucher aus der deutsch­sprachigen Welt in jeder Spielminute rufen möchte: "Verweile doch, du bist so schön!"

 

Sobald der Prolog gesprochen ist und der Vorhang aufgeht, entwickelt sich dank mobilen Bildelementen eine Szene aus der andern. Durch die Auflösung der starren Einteilung in Aufzüge und Szenen in ein System der gleitenden Übergänge unterstreicht die Aufführung die Zwangsläufigkeit des dramatischen Verlaufs und zeichnet mit heutigen Mitteln die freie und luftige Dramaturgie des Globe Theaters nach. Die Handlung aber spielt dort, wo sie sich nach Shakespeares Worten ereignet, also "im schönen Verona", und damit fliesst vom ersten Bild an eins ins andere (ça coule de source). Umwerfend.

 

Die Zeit der Handlung hat Shakespeare nicht definiert. Das Theater des 19. Jahrhunderts setzte das Trauerspiel in die Renaissance und steckte dafür Romeo und seine Gesellen in Strümpfe und Pluderhosen. Anders war das bei Shakespeare. Da trug das Kostüm nicht historisches, sondern zeitgenössisches Kolorit. Moissis Idee, "Hamlet im Frack" zu spielen (1929), war demnach kein Verbrechen, sondern ein ehrlicher Versuch, der Autorenintention zu folgen.

 

An der Comédie-Française setzt nun Bühnenbildner und Regisseur Eric Ruf die Handlung in die 1950er Jahre. Er erspart damit den Schauspielern (und den Zuschauern) die unsäglichen Strümpfe, und gleichzeitig legitimiert er den Einsatz des italienischen Schlagers als akustische Klammer von höchster Stringenz. Nicht nur geht es nämlich in den "Canzone" (wie im Stück) um Liebesleid und -lust, sondern dank diesen Melodien führt auch ein Bogen vom Schlagersänger auf der Piazza, der in der ersten Szene eine fragile Volksfest-Atmosphäre evoziert, zur Musik beim Fest, an dem Romeo Julia zum ersten Mal erblickt, bis hin zum leise dudelnden Kofferradio, das Julias Monolog begleitet: "Mein düstres Spiel muss ich allein vollenden. / Komm du, mein Kelch!"

 

"Abgewandelte Wiederkehr des Gleichen" nannte Walther Killy dieses gestalterische Element. Es ist Kennzeichen der grossen Literatur und, wie sich in Eric Rufs gescheiter Inszenierung zeigt, auch Kennzeichen der grossen Theaterkunst. Darum erweist sich die Aufführung von "Roméo et Juliette" an der Comédie-Française am Ende als Triumph der Theatermacher über die Theaterideologen, Theaterwissenschaftler und Theaterkritiker, und dies zum Entzücken der Zuschauer und des Theaterdichters aus Stratford-upon-Avon.

Ein leise dudelndes Kofferradio begleitet Julias Monolog: "Mein düstres Spiel muss ich allein vollenden."

Der Einsatz des italienischen Schlagers bildet eine akustische Klammer von höchster Stringenz. 

 
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