Die lächerliche Finsternis. Wolfram Lotz.

Schauspiel.                  

Mario Matthias, Konstantina Dacheva, Anouk Bonsma. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 18. Mai 2016.

 

 

Beim Schreiben seines Hörspiels hat sich Wolfram Lotz an den Rat der Alten gehalten: "Ein Gedicht ist wie ein Bild" (ut pictura poesis). Das statuierte Horaz ca. 25 v.Chr. in seiner "Dichtkunst" (Ars poetica). Im Licht seiner Theorie gleicht nun "Die lächerliche Finsternis" in wesentlichen Zügen Hieronymus Boschs "jüngstem Gericht" (Wien, Galerie der Akademie der bildenden Künste). Beide Werke beeindrucken – und befremden – durch die ungewohnte Montage zerschnipselter organischer Formen. Die Fragmente führen sinnlos reflexhafte Bewegungen weiter, die an das Zucken abgetrennter Gliedmassen erinnern.

 

Ut pictura poesis. Die absurden Kombinationen, die Bosch im Mittelteil des Triptychons mit zerschnipselten Körperteilen anstellt, bringt Wolfram Lotz mit zersplitterten Sinn- und Wirklichkeitselementen hervor, und den verschiedenen Beleuchtungen und Perspektiven des Malers, die den verlorengegangenen Weltzusammenhang ausdrücken, entsprechen beim Hörspiel die verschiedenen Erzählentwürfe, mit denen die Figuren aus der Finsternis heraustreten.

 

"Sprich, damit ich dich sehe", war der Titel einer Hörspiel-Anthologie in den 1960er Jahren. Das heisst: Beim Hörspiel genügt die Sprache, damit Menschen und ihre Verhältnisse zur Anschauung kommen. In Texten wie der "lächerlichen Finsternis" ziehen sie träumerisch assoziativ, ahnungsvoll fluktuierend vor dem inneren Auge des Zuhörers vorbei. Dabei verlässt das Stück innerhalb der Erzähl-Monaden den narrativen Duktus nie. (Ich brauche diese Begriffe wie Jacques Barzun, "um zu zeigen, dass ich die aktuellen Sprachmoden beherrsche".) Die Personen reden nicht nur zueinander, sondern auch zu uns. Sie teilen uns mit, was sie in einem bestimmten Moment denken, empfinden und wollen, und stellen uns damit vor die Aufgabe, ihren subjektiven, beschränkten Geschichten vor dem Hintergrund der Weltgeschichte einen Sinn zuzuweisen. Wir aber kommen dabei nicht über die ernüchterte Feststellung hinaus: "Die Welt ist das Chaos." (Dantons Tod)

 

Bringt man nun aber das Hörspiel auf die Bühne, wird (gerade im kleinen Kasten von Vidmar 2) die Geschichte, bedingt durch die räumliche Enge, schwer und körperhaft; sie verliert den Charakter des Unbestimmten, dynamisch Schwebenden und wird durch die Gegebenheiten des Raums, seiner Einrichtung (Konstantina Dacheva) und durch die konkret anwesende Leibhaftigkeit der Schauspieler in einer Weise definiert, die gegenüber dem Hörspiel ein Minus darstellt. Nun ist es vorbei mit den geheimnisvollen Rufen aus Finsternis und Ferne. Der massive Einsatz von Nebelmaschinen, Dimmeffekten, Mikrofonverstärkungen, Echo- und Sound-Additionen kann die verlorengegangene, aber ach so wesentliche poetische Unschärfe der Narration nicht wiederbringen. Schopenhauer hatte recht: "Die Materie wehrt sich gegen den Geist."

 

Ökonomisch betrachtet (womit wir weiterhin in der materiellen Dimension bleiben) hilft die aktuelle Bühnenfassung natürlich, die Besetzungsliste zu verkleinern und Gagen zu sparen. Es braucht bloss einen Wechsel des Kostüms (Anouk Bonsma), damit man Mariananda Schempp als Ultimo Michael Pussi, Bojan Stojković, Tofdau oder Wolfram Lotz erkennt, und durch den Bart verwandelt sich David Berger von Lodetti zu Reverend Lyle Carter. Aber wie unwesentlich das Äusserliche in Wirklichkeit für das Stück ist, bewies die Deuxieme. Der Darsteller des Stefan Dorsch, Lukas Hupfeld, war wegen Erkrankung ausgefallen, und Regisseur Mario Matthias sprang für ihn ein. Er las den Text ab und bewegte sich kaum. Gleichwohl ergab das eine bravouröse, in sich geschlossene Leistung, die keinen Wunsch offenliess, wo doch Matthias und Hupfeld darstellerisch in jeder denkbaren Beziehung Antipoden sind. Dass das Stück auch unter diesen Bedingungen funktionierte, zeigt, dass das Hörspiel nicht auf die Bühnenadaptation angewiesen ist. Zumal der Konkretisierungs- und Definitionszwang des Theaters manchen ungerechtfertigten Lacher hervorrief. Ein heute vergessener französischer Kritiker des 19. Jahrhunderts (Émile Faguet) erhielt von seinem Vorgänger Jules Lemaître fürs Geschäft des Rezensierens den Rat: "Befrag dich, warum du lachst." (Interroge-toi pourquoi tu ris.)

 

Vor diesem Hintergrund kam Georg Christoph Lichtenberg, der in London das komödiantische Spiel Garricks studiert und in Göttingen die Hogarthschen Kupferstiche kommentiert hatte, zur Einsicht: "Ich glaube doch, dass, im Vergleich mit dem Engländer, die Vernunft bei dem Deutschen mehr vertuscht, was eigentlich gar nicht einmal stattfinden sollte. Der Deutsche lacht zum Exempel bei mancher Gelegenheit nicht, weil er weiss, dass es unschicklich ist, wobei dem Engländer das Lachen gar nicht einfällt." Es täte dem Schauspiel gut, wenn mehr Engländer den Weg in die Vidmarhallen fänden.

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