Die Clowns - Pagliacci. Ruggero Leoncavallo.

Oper.                  

Konzert Theater Bern.

Sebastian Gottschick, Xavier Zuber. Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 15. April 2016.

 

 

Es gab an der Premiere verschiedene Buhs. Gegenüber dem Tenor drückten sie massive und gegenüber der Regie deutliche Ablehnung aus. Nicht zu unrecht, vergleicht man John Uhlenhopp mit Enrico Caruso (dem bedeutendsten Interpreten des Canio) und "Die Clowns" mit dem "Bajazzo" ("I Pagliacci"). Die Abweichungen zwischen der Berner "opera povera" und Leoncavallos zweiaktigem Original sind so enorm, dass man wohlberaten ist, den Experten zuhause zu lassen und an seiner Statt das Kind mitzunehmen. Mit ihm bleiben wir fünfzehn Meter vor dem Kubus auf dem Waisenhausplatz stehen. Ein dichter Menschenkreis zeigt an, dass da schon etwas am Laufen ist. Seifenblasen, Hanteln und Bälle steigen über den Köpfen der Zuschauer auf. Eine Trompete übertönt den Umgebungslärm.

 

Für einmal hat das Theater mit seinen Profis den Platz erobert, der sonst den Gelegenheits- und Wanderdarstellern gehört, und die krawattierten Premierenbesucher mischen sich mit dem Passantenpublikum des Abendverkaufs. Die Teilung zwischen U und E, anspruchsvoller Opernkunst und ordinärem Strassentheater, Montalto in Kalabrien, wo die Handlung ursprünglich angesiedelt war, und Bern, wo nun die "Pagliacci" spielen, die Trennung zwischen einem imaginären 15. August 1865 und dem realen 14. April 2016, die Unterscheidung zwischen Aufführung und Wirklichkeit – all diese Grenzen sind aufgehoben, und das Stadttheater behauptet sich dank Xavier Zubers gescheiter Umdeutung glaubhaft im sogenannten urbanen Umfeld von Konsum und Kommerz.

 

Aus dem Spiel erwächst der Prolog mit seinen überaus populären musikalischen Themen, die zum Mitsummen einladen - nun aber nicht mehr vor dem Vorhang in von Wurstembergers Bonbonarchitektur mit Plüsch und Gold, sondern vor der provisorischen Spielstätte auf der Asphaltfläche. Arte povera, wahrhaftig. Dazu gehört, dass die Partitur von Sebastian Gottschick auf fünf Instrumente reduziert wurde: Trompete, Handorgel, Klavier, Geige, bzw. Bratsche, Klarinette, bzw. Bassklarinette. Diese Besetzung passt auch besser zu einer wandernden Komödiantentruppe mit Nummerngirls und Akrobaten.

 

Diese Artisten ziehen jetzt aber nicht in ein helles süditalienisches Dorf ein, sondern in die schwarze Vorhalle des Kubus. Hier werden die "Damen und Herren" begrüsst und zum "Schauspiel" eingeladen, das sich im Innern des Zuschauerraums abspielen wird. An dieser Stelle entmischt sich das Publikum. Wer kein Billet hat, kommt nicht weiter.

 

Im Kubus nun gibt es, entgegen der Ästhetik des Verismo, keine vierte Wand. Sondern das Publikum wird durch unausgesetzte Ansprache weiter in das Spiel einbezogen: "Kann jemand einen Witz erzählen? Nur einen ganz kleinen... Bitte!" Michele Govi, der in Biel/Solothurn die grossen ernsten Rollen sang (in dieser Spielzeit Vater Germont in der "Traviata" und vor wenigen Jahren den Rigoletto), ist in der Clownsmaske nicht wiederzuerkennen. Seine Persönlichkeit verrät sich bloss durch die Kraft, mit der er auch diesmal die Rolle füllt.

 

Die Clowns benötigen nun für die Handlung eine Braut und einen Bräutigam: "Was gibt es Schöneres als ein Hochzeitsfest?" Govi schreitet in die Zuschauerreihen hinein: "Wer stellt sich zur Verfügung?" Die meisten ziehen den Kopf zwischen den Schultern ein. Aber nach insistierendem Bitten melden sich zwei Mutige (oder sagen wir lieber: zwei Selbstlose), die sich auf die Bühne schleppen lassen. Man sieht ihnen die Verlegenheit an: Sie wissen nicht, wohin mit den Händen, und ihr ausdrucksloses Gesicht verrät, dass sie nicht verstehen, worum es geht. Mit der Zeit aber bekommen sie die Sache mit und entpuppen sich als Mitglieder des Ensembles (Oriane Pons und John Uhlenhopp).

 

Durch dieses souveräne Spiel mit der Wirklichkeit realisiert Regisseur Xavier Zuber einen Verismo zweiter Potenz, und stellt damit unter Beweis, dass er nicht vergebens mit Herbert Wernicke und Calixto Bieito zusammengearbeitet hat. Das Eifersuchtsdrama eines alternden Mannes übersetzt Zuber aus dem "Blick am Abend"-Format in die höhere Sphäre des komödiantischen Spiels, das als Spektakel- und Clownsstück gleichzeitig auch das tiefere ist. Die Antithetik von Theater und Wirklichkeit nämlich, die Leoncavallo zur Darstellung bringen wollte, hebt die Produktion in der überzeugenden Synthese des "Tutto nel mondo è burla" auf: Alles auf der Welt ist Spass, Spiel, Spott, Fopperei.

 

Die Richtigkeit dieses Ansatzes, der Leoncavallo zurücklässt, aber auch übertrifft, zeigt sich daran, dass im gewählten Rahmen (zweitrangige Truppe bereist die Provinz) individuelle darstellerische und gesangliche Unbeholfenheiten nicht mehr stören, sondern stimmen. Damit schaffen es Xavier Zuber und sein Team, die "Pagliacci" und Konzert Theater Bern, den Kubus und den Waisenhausplatz, die Berner und die Künstler zusammenzubringen durch eine Umdeutung, die zugleich gescheit und locker, tiefsinnig und vergnüglich ist.

 

Ob man das darf? Die Puristen an der Premiere haben's verneint. Sie gaben damit aber, um Hugues Gall zu zitieren, die falsche Antwort auf eine Frage, die sich nicht stellt. Der legendäre Operndirektor, der Genf in den 15 Jahren seines Wirkens an die Weltspitze brachte (sein "Maskenball" zum Beispiel wurde von 22 Radiostationen übernommen), fragte immer bloss: "Funktioniert's?" Das ist auch die einzige zulässige Frage, wenn man Fortschritt und Weiterentwicklung nicht verhindern will. Auf die Berner Produktion nun antworten das Kind und das Kind im Manne mit einer Stimme: Ja, es funktioniert.

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