Alcina. Georg Friedrich Haendel.

Oper.                  

Franco Trinca, Alexander von Pfeil, Piero Vinciguerra, Mario Bösemann. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 9. April 2016.

 

 

"Alcina" ist ein Machwerk. Es hatte seine Zeit: am 16. April 1735. Das kulturgeschichtliche Gedächtnis Europas indes hat für dieses Jahr keine Werke von Belang festgehalten. Was für die damaligen Massen in Paris, Wien und London geschrieben wurde, ist mit den damaligen Massen untergegangen. Oder interessiert wirklich jemanden die Geschichte einer mannstollen Zauberin, die ihre ausgelutschten Liebhaber wegwirft, umbringt oder in Bäche, Büsche, Blumen und Tiere verwandelt? Natürlich findet sie am Ende ihre gerechte Strafe, und alle verzauberten Opfer stehen wieder auf.

 

Die Geschichte reicht zurück in die Odyssee. Dort heisst die Zauberin Kirke. "Aber seien wir ehrlich", schrieb Alfred Kerr am 30. Oktober 1909 in einer "Hamlet"-Kritik: "Das Werk hat uns heute nichts mitzuteilen." Er urteilte gegenüber Klassikern gleich unbefangen wie Theodor Fontane, der am 2. Mai 1873 in einem Brief erklärte, er wisse sich "völlig frei von Namenanbetung und Literaturheroenkultus". Dazu nochmals Kerr: "Der Kritiker ehrt keinen anerzogenen Irrtum. Nicht bei der Betrachtung des Griechenvolks. Nicht beim Shakespeare. Nicht bei Molière." Und, könnte man aus aktuellem Anlass ergänzen, auch nicht bei Haendel.

 

In den über vierzig Opern, die Georg Friedrich Haendel geschrieben hat, ist "Alcina" nicht das einzige verruchte Weib, das sich mit seinem Zauber die Männer unterwirft. Aber das Libretto machte es hier für die Uraufführung besonders interessant, die hochentwickelte Maschinerie des Covent Garden-Theaters mit ihrem raffinierten Verwandlungssystem einzusetzen. So sahen die Zuschauer zu Beginn der Oper auf der Bühne einen "wüsten, von hohen Bergen eingeschlossenen Ort". Schon nach kurzer Zeit jedoch "hört man" – wie es im Libretto heisst – "das Krachen von Donner und Blitz. Auf mehreren Seiten einstürzend, öffnet sich der Berg unversehens. Er verschwindet, und es erscheint der wunderschöne Palast der Alcina."

 

Die Bühnen von Biel und Solothurn, und erst recht nicht die der Abstecherorte Vernier und Burgdorf, sind zu solch spektakulären Effekten nicht gerüstet. Piero Vinciguerra, der Ausstatter, muss sich deshalb mit einem Einheitsbühnenbild behelfen. Die Stimmungswechsel werden hier durch eine subtile Lichtregie (Mario Bösemann) und eine Vielzahl von Requisiten hervorgerufen.

 

Diese Requisiten, allesamt konkret, aussagestark, in der Wirklichkeit verhaftet, erlauben es dem Regisseur Alexander von Pfeil, Haendels dürftiges Handlungsgerüst zu beleben und den Sog einer fortlaufenden Erzählung zu suggerieren. So erhalten die schablonenhaft flachen Figuren durch das Spiel mit den Dingen etwas wie Rundung, ja im Fall Alcinas gar Ambivalenz: eine Mischung von Dämonie und echtem Liebesverlangen, Ohnmacht und Erlösungsbedürftigkeit. Damit wirkt die spätbarocke Zauberin unversehens wie eine Vorwegnahme der Kurtisane Violetta Valéry, der Verdi in der "Traviata" (der vorangehenden Musiktheaterproduktion von Biel/Solothurn) ein Denkmal gesetzt hat. In beiden Opern beginnt der dramaturgische Bogen am Höhepunkt sinnbetörter Débauche und mündet in den Fluch gottverlassenen Todes.

 

Obwohl die "Alcina"-Produktion in ihren körpersprachlichen, choreographischen und dinglichen Zeichen ausschliesslich heutiges Vokabular verwendet, beschwört sie gleichwohl unangestrengt die barocke Grundantinomie von Eros und Thanatos herauf. Wie stimmig hier jede einzelne Figur geführt ist, belegt das raumfüllende Bild auf den Seiten 16 und 17 des Programmhefts (Foto: Sabine Burger). 19 Mitwirkende sind da zu sehen, jeder mit seinem Charakter, und insgesamt sind alle zusammengefasst in der Emotion eines starken finalen Moments. In Biel/Solothurn wird also die eingeschränkte Bühnentechnik kompensiert durch meisterliches Regiehandwerk.

 

Orchester und Sänger, an der Premiere anfangs etwas befangen, spielen sich bis zur Pause zunehmend frei. Die energischen Stellen sind präzis und packend. Überzeugend die Koloraturpassagen von Candida Guida und Anne-Florence Marbot. Franco Trincas Dirigat ist aber nicht elastisch genug, den lyrischen Nummern einen solchen Lauf zu gönnen, dass reine Schönheit aufblüht und die Zeit angehalten scheint.

 

Damit ist "Alcinas" Wiedererweckung letzten Endes nur halb gelungen. Das dreiaktige "Dramma per musica" bleibt ein Machwerk. Es geht einem dabei wie Alfred Polgar bei Fräulein Rosar, der Darstellerin der Vroni in Ludwig Anzengrubers "Meineidbauer" 1918: "Gerade ihre stärksten dramatischen Töne klingen hohl; und wenn sie ihr Herz sprechen lässt, hört man gar nichts."

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