Engel des Vergessens. Maja Haderlap.

Schauspiel.                  

Georg Schmiedleitner, Volker Hintermeier, Peter Bandl. Burgtheater Wien.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 21. März 2016.

 

 

Beim "Engel des Vergessens" handelt es sich um die Dramatisierung eines Romans. Das erklärt die Abwesenheit einer streng gebauten Handlung und den assoziativen, biographisch geprägten Erzählverlauf mit einem Ich 1, das als kleines slowenisches Mädchen in der Handlung steckt, und einem Ich 2, das nach Wien an die Uni kommt, später eine Stelle als Dramaturgin findet und jetzt im Stück, wenn es kommentiert, reflektiert und Selbstaussagen macht, das Rotwelsch der Studierten nicht ablegen kann. Die "Bühnenfassung für das Burgtheater", das die Autorin Maja Haderlap zusammen mit dem Regisseur Georg Schmiedleitner vorgenommen hat, ist also, geologisch gesprochen, Mergel mit Einschlüssen von Kieseln und Lehm. Zu einem Block lässt er sich nicht verarbeiten. Aber als Grundlage für ein Gebäude ist er tragfähig.

 

Fünf Elemente stechen in der Aufführung hervor: (1) Die Intelligenz der Spielzüge, (2) die Qualität des Ensembles, (3) die kluge Beleuchtung, (4) die Herstellung grosser Bögen und (5) der Wechsel der Töne. Mit diesen Qualitäten spielt das Burgtheater, auch wenn es um Uraufführungen geht, ganz vorne mit; ist es doch noch immer amtierendes "Theater des Jahres". Dazu gehört, wie das informierte Publikum vom Theater heute weiss, und vielleicht gar erwartet, dass die Spieler ausgezogen werden. Die Regel ist, dass die Regisseurinnen die Männer ausziehen und die Regisseure die Frauen. Georg Schmiedleitner ist ein Mann, ergo...

 

Der "Engel des Vergessens" wird sich nun aber dadurch in die Theatergeschichte einschreiben, dass hier – man kann auch in diesem Punkt von einer Uraufführung reden – die Brüste einer Achtzigjährigen gezeigt werden, und zwar nicht die irgendeiner namenlosen Figurantin, sondern die der Doyenne des Burgtheaters Elisabeth Orth. Sie gibt sich dazu her, weil sich gerade in der Auskleideszene im Stück von Haderlap/
Schmiedleitner das schlechthin Menschliche einbringen lässt. Es geht hier also nicht um voyeuristi­schen Geronto-Sex, sondern um die Nähe von Grossmutter und Enkelin in der gemeinsamen bäuerlichen Schlafstube, wo das Kind (und das Publikum) der überlegenen Gelassenheit einer alten, vielgeprüften Frau begegnet, die im Leben viele, viele kranke Frauen gepflegt hat und die im KZ viele, viele Frauen sterben sah, so dass jetzt die nackte Haut bloss noch den Weg allen Fleisches und die Dimension der Vergänglichkeit evoziert. Das nennt man (1) Intelligenz der Spielzüge.

 

Elisabeth Orth steht ebenfalls beispielhaft für (2) die Qualität des Ensembles, was Präsenz, Ausstrahlung und Wortdeutlichkeit angeht. Ihre überlegene Sprechtechnik wird besonders ohrenfällig im Vergleich zu den jungen, fraglos guten Darstellerinnen. Aber bei ihnen sind S und Z nicht zu hören, auch nicht, wenn sie an der Rampe stehen. Die Orth hingegen ist auch deutlich, wenn sie hinten spricht. Es ist also nur noch eine Frage der Zeit, bis ein Doktorand oder eine Doktorandin die Dissertation über den Einfluss der Zahnspange auf die Artikulation junger Schauspielerinnen schreiben wird, am besten als transdisziplinäres Projekt unter Mitwirkung von Physik, Physiologie, Zahnorthopädie, Wahrnehmungs­psychologie, Logopädie und Theaterwissenschaft. - Was nun aber die Qualität des Ensembles betrifft, so tritt sie daran zutage, dass das Spiel in den starken Momenten nicht ins Schrille oder Überbelichtete kippt, sondern Mass hält (das nannte man früher Stil). Dadurch erhält die Darstellung Wahrheit, Kraft, Eindringlichkeit.

 

Zeichen einer qualitätsvollen Aufführung aber ist das Licht (3): Es ist das erste, was man sieht, noch bevor man begreift, worum es geht, und bevor man beurteilen kann, ob die Inszenierung gut gebaut, die Schauspieler gut geführt sind und ob das Bühnenbild Sinn macht. In der Praxis kommt es nie vor, dass eine mittelmässige Inszenierung gutes Licht hat. Umgekehrt hat noch nie mittelmässiges Licht eine gute Inszenierung begleitet. Beim "Engel des Vergessens" ist das Licht gut (Peter Bandl). Man merkt es daran, wie es die Figuren herausmodelliert, und an seiner belebten Unauffälligkeit im Zusammenspiel mit dem dynamischen, aber leider nicht konsequent abstrakten Bühnenbild (Volker Hintermeier).

 

Die Handlung setzt unvermittelt mit einem Unfall ein. Der schwer betrunkene Vater stürzt vom Motorrad. Aber es ist ihm nichts geschehen. Nur das Gebiss hat er verloren. Er hatte wieder einmal einen Schutzengel, sagt die Grossmutter. – Dass in diesen wenigen Spielminuten schon das ganze Stück enthalten ist, wird den Zuschauern klar, je mehr sie von der Geschichte wissen, die nicht nur die Geschichte einer Familie ist, sondern die Geschichte der Kärntner Slowenen in der Nazizeit, mithin Historie.

 

Der Schutzengel griff zum ersten Mal ein, als die Person des Vaters im Alter von zehn Jahren von der SS gefoltert wurde, weil sich sein Vater zu den Partisanen geschlagen hatte. Dreimal wurde der Bub an der Schlinge hochgezogen, bis es ihm schwarz vor den Augen wurde. Aber seine Lippen blieben verschlossen. Damals versenkte er das Grauen in seinem Innern. Er verhielt sich so, als ob ihm die Sprechwerkzeuge abhanden gekommen wären. - Dass er am Ende des Stücks als alkohol- und nikotinsüchtiger alter Mann nicht an der Schlinge, sondern an den Schläuchen hängt, und dass er im Rollstuhl fährt statt auf dem Motorrad, gehört zu den grossen Bögen (4), die im Lauf der Zeit allmählich hervortreten. So erweist sich die Darstellung des unvergessenen und unbewältigten Unrechts am Ende als sinnvoll und in sich geschlossen.

 

Für Walther Killy war "der Wechsel der Töne" (5) das Kennzeichen grosser Literatur. Man könnte auch sagen: guter Aufführungen. Zuweilen vermisst man diesen Wechsel nicht, obwohl er fehlt, weil das stoffliche Interesse die Aufmerksamkeit zu stark beansprucht. Wenn aber Lautes in Stille mündet, Rohes in Feines und Belebtes in Ruhe, weist der szenische Verlauf mehrere Klimazonen auf, und dieser Wechsel macht eine Aufführung erst zum Abbild des Lebens und der Welt. Im Blick auf den "Engel des Vergessens" kann man sagen: Quod erat demonstrandum.

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