Boléro/Rhapsodie Espagnole/Tzigane. Maurice Ravel.
Nächte in spanischen Gärten. Manuel de Falla.
Sinfonische Musik.
Jos van Immerseel. Anima Eterna Brügge im Auditorium von Dijon.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 12. März 2016.
Das Crescendo im "Boléro" von Ravel ist ein Erlebnis nicht nur fürs Ohr, sondern auch fürs Auge. Auf dem Riesenplateau des Auditoriums von Dijon, auf dem die hundert Musiker von Anima Eterna verstreut sind wie die Reiskörner auf einem Gemälde von Jackson Pollock, erklingen plötzlich, man weiss nicht woher, die harten Schläge einer kleinen Trommel, durch die sich der berühmte Rhythmus an der Grenze der Hörbarkeit in den Saal schleicht. Dann sieht man, fast noch bevor man sie hört, die tiefen Streicher an ihren Saiten zupfen, während die ersten Geigen immer noch auf den Knien ihrer Spieler ruhen. Jetzt erklingt die langgezogene, versonnene Melodie aus der Klarinette und – wieder meldet's das Auge zuerst – auch aus der Flöte; ein erstes Auftreten des Mischklangs, der in diesem impressionistischen Exerzitium immer neue Farben hervorbringt; am faszinierendsten dort, wo die zerbeulten alten Blechinstrumente, die im Lauf der Jahrzehnte ihren Glanz verloren haben, ins Spiel kommen, wie das über hundertjährige Saxophon (ein "instrument d'époque"), das schön, geheimnisvoll und rauh wie am fünften Schöpfungstag, als Gott Vögeln und Getier Laut und Stimme gab, den "Boléro" ins Melancholisch-Träumerische kippen lässt. So tritt ein Instrument nach dem andern ins Geschehen ein. Als man gewahr wird, dass jetzt alle hundert Musiker blasen, schlagen, streichen, hat das Stück unversehens einen neuen Charakter angenommen. Nun werden jene Schärfen hörbar, bei denen die Musikredaktoren von SRF 2 Kultur gern lobend zum Begriffspaar von "Ecken und Kanten" greifen. - Wie dann der "Boléro" zur letzten Steigerung ansetzt, Pauke und Gong mit Riesenschlegeln den Höhepunkt einläuten, bevor der schrille Zusammenbruch mit schärfster Klinge in den Raum geschnitten wird, realisiert man, welch vornehme Interpretation Anima Eterna und Jos van Immerseel von diesem Spektakelstück geboten haben. Statt Emphase Wachheit. Statt vulgärem Ranschmeissen subtiles Hinhorchen. Das Publikum in Dijon klatscht diesmal nicht hingerissen, sondern respektvoll.
Noch zarter, noch aufregender gestaltet sich die "Rhapsodie Espagnole". Die Schallplattenvergleichssendung "Disques en lice" hatte seinerzeit das Stück auf "Espace 2" schon angekündigt und die sechs Versionen bereitgelegt, die verglichen werden sollten, als die Paketpost noch die Einspielung von Anima Eterna ins Studio brachte. Spontan setzte sie Moderator Jean-Luc Rieder der Jury als siebte Version "hors concours" vor. Die Experten horchten höflich hin, dann interessiert, und behielten die CD von Runde zu Runde im Wettbewerb. Längst war es keine "écoute anonyme" mehr. Die spanische Pianistin lachte: "Ich lasse mich nicht täuschen. Anima Eterna ragt aus allen andern Aufnahmen heraus!"
Man brauchte in Dijon nicht zu fragen, woran das liegt: In der Wiedergabe der "Rhapsodie Espagnole" durch Anima Eterna mischen sich kontrolliertes und hingebungsvolles Spiel, Präzision und Schönheit. Die exquisite Musikergemeinschaft vermittelt mit ihren Originalinstrumenten den Klang, das Fluidum, die Aura und die scharfgezackte Eigenheit jeder Komposition und macht sie zum Ereignis, als wär's zum ersten Mal.
Eine weitere Qualität des Klangkörpers tritt zutage, wenn die Solisten hinzukommen (Claire Chevalier mit ihrem Erard-Flügel von 1905 für de Fallas "Nächte in spanischen Gärten" und Chouchane Siranossian mit ihrer charakterstarken Geige für Ravels "Tzigane"). Da Jos van Immerseel kaum Zeichen gibt, geschweige denn Einsätze (er dirigiert mit den Augen, sagen die Musiker), müssen die Solisten an der Rampe und im Orchester genau aufeinander hören. Diese kammermusikalische Spielweise, die dem einzelnen hohe Verantwortung überträgt, führt zu einem Klima von hingebungsvoller Versenkung und konzentrierter Stille, wie man ihm in den Lesesälen bedeutender Bibliotheken begegnet, wo Aufmerksamkeit aufs Detail und sensibles Wahrnehmen der Nuance der Aufgabe dienen, hinter den harten Zeichen des Texts den Sinn hervortreten zu lassen, auf dass lebendig werde "der feste Buchstab" (Hölderlin). Dergestalt entstehen im Spiel von Anima Eterna Schönheiten, die man nie gehört zu haben glaubte. In ihrem Auftreten und Vergehen bringen sie die unwiederbringliche Kostbarkeit des erfüllten Moments zur Erfahrung.