Der gute Mensch von Sezuan. Bertolt Brecht.
Schauspiel.
Johannes Lepper. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 11. Februar 2016.
Brecht sagte: "Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön." Übertragen auf die Berner Aufführung des "Guten Menschen von Sezuan" heisst das: Nimm ein beliebiges Element unters Mikroskop, und es erweist sich als sinnvoll. Damit haben wir es hier mit einer gescheiten, wohlverfugten, hochanregenden Regiearbeit zu tun, deren Grösse darin liegt, dass sie den Kern des Schauspiels trifft und szenisch beeindruckend umsetzt.
Doch nun der Reihe nach. Die Aufführung beginnt, wie immer in den Vidmar-Hallen, bei offenem Vorhang; aber diesmal nicht akzidentiell, technisch bedingt (weil er fehlt), sondern sinnvoll, konzeptuell notwendig. Durch Leuchtröhren werden nämlich drei Bereiche klar definiert. Eine Art Sandkasten in der Mitte der Bühne bezeichnet das Drinnen. Das Draussen befindet sich darum herum. Wo die Szene gerade spielt, ob drin oder draussen, erklärt der Wasserverkäufer Wang. Nico Delpy tritt dafür aus seiner Rolle heraus und spielt, indem er ad spectatores redet, den Brechtschen Ansager. Weil die Bühne sonst leer ist (Regie und Bühne: Johannes Lepper) bezeichnet Delpy/Wang die Spielorte durch sogenannte Wortkulissen: "Shen Tes Laden." "Das Wirtshaus." "Der Stadtpark." "Die Strasse."
Um diese Spielbereiche herum legt sich die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Zuschauer zunächst, die Wang/Delpy anspricht und mit der Aufführung verknüpft: "Hat jemand eine Wohnung? Sie da in der ersten Reihe mit dem roten Mund, woher kommen Sie?" "Aus Biel." "Ah, très bien, alors vous parlez le français!" – Die Wirklichkeit befindet sich aber auch neben dem Zuschauerbereich an den Seiten und hinten, wo die Spielfläche aufhört. Dort sieht man die Schauspieler auf ihren Einsatz warten; dort ziehen sie sich um, schminken sich neu. Hinter der Wirklichkeit im Theater aber beginnt die grosse Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Welt. Und dort, im Bereich der Werkstätten oder Garderoben, zieht während der ganzen 2 ¾-stündigen Aufführung eine unaufhörliche Reihe von Flüchtlingen vorbei; sie kommen aus allen Kontinenten, allen Zeiten, allen Völkern, seit die Welt steht, und damit zeigt die Inszenierung, wo die wahre Aufgabe liegt: In der Not dieser Vorüberziehenden.
Damit ist auch klargestellt, dass der "gute Mensch von Sezuan" nur ein Spiel ist. Er bietet ein stark reduziertes Modell, um einige Grundtatsachen zu demonstrieren. Es macht also Sinn, einen Sandkasten in die Mitte der Bühne zu stellen. Auch wenn er in Wirklichkeit nicht mit Sand gefüllt ist. Bei Spielbeginn füllen die Schauspieler nämlich den Kasten mit Reis auf, den sie aus Zweikilosäcken herausrieseln lassen. Niemand im Saal protestiert, dass die Aufführung anfängt, mit einem Grundnahrungsmittel zu spielen, das anderswo – zur Zeit gerade in Äthiopien – bitter fehlt. Damit aber sind die Zuschauer, noch bevor das erste Wort gesprochen ist, in ihrer Geistesträgheit und moralischen Indolenz blossgestellt. "Die moralische Entrüstung ist nicht wirklich aufrichtig, solange sie nicht buchstäblich in Erbrechen mündet", schrieb der kolumbianische Selberdenker Nicolás Gómez Dávila.
Durch überraschende Spielzüge aufzudecken, dass die falsche Einstellung der Zuschauer für den falschen Lauf der Dinge mitverantwortlich ist, gehört zu den Stärken der Inszenierung. Sie ist damit so nahe bei Brecht, wie man nur kann, und indem sie ihn so ernst nimmt, wie man nur kann, rückt sie uns mit der Parabel, dass in einer schlechten Welt niemand gut sein kann, wahrhaft auf die Pelle.
In der zweiten Vorstellung sitzen zweihundert junge Leute zwischen 16 und 20 und folgen konzentriert dem Spiel. Ein paarmal geben die reaktionsschnellen jungen Zuschauerinnen laut: Wenn Wang, um Regen anzudeuten, Wasser aus seinem Mund auf die Shen Te-Darstellerin prustet. Oder wenn der Darsteller des Barbiers (Tobias Krüger) die Brötchen, die ein junger Dieb hat fallen lassen, vom staubigen Bühnenboden aufnimmt, um sie gierig in den Mund zu stopfen, aus dem kurz darauf die halbzerkaute Ware in Shen Tes Hände bricht. Da kichern die jungen Zuschauerinnen: "Gruusig!", und das ältere Publikum regt sich mit Abscheu. - Die Bosheit aber, mit der im "guten Menschen" jeder jeden belügt und betrügt, weil "man" "nur so" "zu seiner Sache" kommt, wird gleichgültig hingenommen. Wenn das so ist, sagen Brecht und die Inszenierung, haben wir nicht die richtigen Vorstellungen von dem, was wirklich schmutzig ist. Unser Gesichtskreis ist zu eng. Nur einer schrieb ins Sudelbuch: "Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun." (Georg Christoph Lichtenberg)
Den Beweis, dass die Welt falsch eingerichtet ist, führt die Inszenierung mit einem Mittel vor, das dem absurden Theater entspringt: der Pause. Durch das Innehalten nach jedem Schritt erhält die Aufführung den strengen Gleichtakt einer logischen Demonstration, und gleichzeitig ermöglichen es die Pausen den Zuschauern mitzudenken, jedes Motiv der Handelnden zu wägen, zu beurteilen und so, durch eigene Denktätigkeit, Erkenntnis zu gewinnen. - Daneben arbeitet die Inszenierung mit dem Mittel der verzerrten Darstellung. Indem sie Menschen, Dinge und Götter erkennbar "falsch" darstellt, nämlich verzeichnet, schief, abstossend, führt sie zur Einsicht, dass in Wirklichkeit das, was wir in Weltlauf und -einrichtung fürs Normale halten, erst das Schiefe, Abstossende, Desaströse hervorruft.
Dass einem diese Einsichten nicht bloss intellektuell, sondern emotional und schmerzhaft nahegehen, ist das Verdienst von Mariananda Schempp. Als Darstellerin von Shen Te/Shui Ta gehört sie in die oberste Liga. Es liegt nicht allein am Können, an der Wortdeutlichkeit, an der Ausstrahlung, mit der die starke Schauspielerin ihre Figur zeichnet, sondern auch an der menschlichen Wahrheit und Integrität, die sie dabei einbringt. An ihrer Seite zeigt Lukas Hupfelds differenziertes Spiel an der Gestalt des Fliegers, wie ambivalent die Figuren im "Guten Menschen" angelegt sind; gespalten alle, ausnahmslos. Mit ihrem klugen Einsatz der Mittel ist die ausserordentlich gescheite, wohlverfugte Inszenierung damit so nahe bei Brecht, wie man nur kann. "Herr K. sagte einmal: 'Der Denkende benützt kein Licht zuviel, kein Stück Brot zuviel, keinen Gedanken zuviel."