La Traviata. Giuseppe Verdi.

Oper.                  

Jérôme Pillement, Louis Désiré. Theater Orchester Biel Solothurn.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 8. Februar 2016.

 

 

Beim Anblick des Programmzettels durchzuckt einen als erstes der Gedanke: "Sparmassnahme!" Auf Zeile zwei steht nämlich: "Inszenierung, Bühne und Kostüme: Louis Désiré". Für die Biel-Solothurner "Traviata" wurden also drei Positionen zusammengelegt; doch wohl kaum die Honorare...  Der Vorhang geht auf, und nun ist der erste Gedanke: "Stümperei!" Das dreifache Piano des Vorspiels, das die geteilten Geigen in die Luft zaubern, wird gestört von schwarzgewandeten Figuranten, die sich mit breiten Füssen um eine schlanke, aufrechte Frauengestalt bewegen. Es handelt sich, denkt man, um das Ballett von Violettas Anbetern, aber leider, ach, ist der Reigen kein Ballett. Nicht ohne Grund braucht ein Mensch acht Jahre lang Ausbildung, um sich mit Ausstrahlung und taktfest auf der Bühne bewegen zu können. Violettas Anbeter können es nicht. Und so gerät – wie immer, wenn landauf, landab das Vorspiel bei offenem Vorhang gegeben wird – das pantomimische Geschehen in deprimierenden Widerspruch zur Eleganz der Klänge, die aus dem Orchestergraben steigen. Bei den hohen Streichern erklingt nun das zweite Thema (piano con expressione). Die tiefen Streicher geben mit punktierten Noten den Walzertakt an; trotz aller Zurückhaltung klangsatt und rhythmisch vortrefflich. Nicht nur das Tempo stimmt (es wird bis zum Schluss der Aufführung stimmen), sondern auch der Swing und der Drive. Stets drängt das Orchester vorwärts. Nie wird es zäh und schleppend. Den Dreivierteltakt spielt das Sinfonie Orchester Biel Solothurn wie das Orchester der Wiener Volksoper, das unter den grossen Orchestern die grösste Erfahrung und die längste Geschichte des Walzerspielens vorweisen kann. Das Geheimnis liegt darin, mit dem zweiten Schlag etwas zurückzubleiben. Das gibt nun der Introduktion am Jurasüdfuss Eleganz, Verve, Enjouement.

 

Schon beginnt das festliche Treiben im Salon der Kameliendame. Zwei Chöre stossen aufeinander, dazu Violetta, dazu Flora, dazu der Baron, dazu der Marchese, dazu der Doktor, dazu Alfredo – und alle werden "tutti" zusammengehalten von der Hand des Musikdirektors Jérôme Pillement, einem wahren Könner und Meister. Er bringt die Partitur – das ist schon nach wenigen Takten klar – mit Distinktion und Sensibilität zu Schönheit und Leben. Unter ihm sind die lauten Stellen immer durchhörbar, ohne Vulgarität, klangschön, und die leisen streifen, gerade im dritten Akt, ans Jenseitige. Da ist sie endlich zu hören, die Kultur des Mezzoforte, die Kultur des Mezzopiano, die Kultur der ätherischen Klänge, die Kultur des Verhauchens.

 

Die Handlung spielt auf leerer Bühne. Fürs Fest in Violettas Salon sitzt der kreisförmig angeordnete Chor auf schwarzen Stühlen. Rechts bewegen sich grosse, weisse Tücher im Zugwind: Es sind Vorhänge, die an die Leintücher im Lust-, Kranken- und Sterbebett der schwindsüchtigen Kurtisane erinnern. In der schwarzen Einheitsbühne schaffen sie eine ästhetische und inhaltliche Klammer. Dazu bringt der abschüssige Pflasterboden zum Ausdruck, dass Violetta nie wirklich zu Hause ist – auch nie in der Geborgenheit wahrer Liebe.

 

Für den zweiten Akt genügt ein Lehnstuhl. Später kommt ein weisses Bukett ins Spiel. Nichts fehlt; ausser der Glocke, mit der Violetta am Ende des Gesprächs mit Germont nach Annina ruft: "suona il campanello". Man vermisst den Klang. Dieses verlorengegangene akustische Detail ist der Preis für Louis Désirés reduktionistische Inszenierung. Der Gewinn rechtfertigt ihn: Das ganze in sich stimmige, wundervolle Werk bekommt Raum, sich zu entfalten. Keine Objekte – und das heisst auch: keine Äusserlichkeiten - lenken mehr ab. Dabei hatte Verdi die Stuben, ganz im Stil seiner Zeit, immer vollgepfropft. Für den Salon in Violettas einfachem "Landhaus in der Nähe von Paris" verlangte er: "Im Hintergrund ein Kamin, darüber ein Spiegel und eine Pendüle zwischen zwei Fenstertüren, die in den Garten gehen. Im oberen Stock zwei weitere Türen. Sessel, Tischchen, einige Bücher und Schreibmaterial." Dazu kommen noch Tapeten, Vorhänge, Portieren, Bordüren, Täfelungen, die einem "werktreue" Inszenierungen nicht vorenthalten.

 

Demgegenüber tritt in Biel-Solothurn zutage, welchen Sinn es macht, dass Louis Désiré nicht nur für die Inszenierung, sondern auch für die Ausstattung zeichnet. Er braucht sich nicht mit einem Bühnenbildner herumzuplagen, der sich der Kargheit widersetzt, und er kann ohne Widerspruch aufs Absolute gehen. Hier, wo die Objekte - also die Äusserlichkeiten – fehlen, lädt sich der leere Raum auf mit dem Schicksal der Figuren, und ihre Darstellung gewinnt eine erdrückende Intensität, gerade auch durch die Zurücknahme des Gebärdenspiels, die Désiré konsequent verfolgt.

 

In dieser Askese erreicht die Handlung eine Ruhe, Klarheit und Vornehmheit, durch die sie weit absticht vom Gefuchtel geltungssüchtiger Regie-Parvenüs. Wenn aber nichts ablenkt von den Darstellern, hängt die ganze Wirkung an den Nuancen in Gesang, Haltung und Ausdruck. Das Personal der Deuxieme meistert seinen Part gesanglich makellos, darstellerisch ausdrucksstark und menschlich ergreifend: Maria Bochmanova als Violetta (alternierend mit Ljupka Rac), Diego Silva als Alfredo (alternierend mit Yujoong Kim) und Michele Govi als Vater Germont.

 

Am Ende verlässt das Publikum, das zweieinhalb Stunden still wie die Maus im ausverkauften Palace sass ohne zu husten, aufgewühlt und erschüttert das Haus. Sogar das stumme Spiel, das in der "Introduzione" noch befremdete, erweist sich im Lauf der Aufführung als Teil eines Konzepts: Mit ihm stellt Regisseur Louis Désiré die Übergänge von Situation zu Situation, Schauplatz zu Schauplatz, Akt zu Akt sicher, um mit einem grossen Bogen den Untergang Violetta Valérys nachzuzeichnen. Unauslöschlich.

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