Un ballo in maschera. Giuseppe Verdi.

Oper.                  

Kevin John Edusei, Adriana Altaras, Christoph Schubiger, Nina Lepilina. Konzert Theater Bern.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 7. Februar 2016.

 

 

Verdis vollkommenste Oper der mittleren Periode, der "Maskenball", verdankt seine Geschlossenheit einer stilistisch rigorosen Entscheidung: Hier weiss, da schwarz; hier gut, da böse; hier edel, da verworfen. - Auf der einen Seite haben wir Verschworene mit abgrundtiefen Mordgelüsten. Ihre Absichten verraten sie gleich im Eingangschor: "Der Hass ist zum Zuschlagen bereit" (sta l'odio che prepara il fio). – Auf der andern Seite haben wir die Freundschaft zwischen Renato und Riccardo, schwärmerisch gezeichnet wie in Schillers Jünglingsdramen.

 

Die Unerbittlichkeit des Entweder-Oder, die den "Maskenball" prägt, verrät ein höchstes künstlerisches Ethos: Es geht um Klarheit, Reinheit, Fasslichkeit. Nicht um Beliebigkeit, Verschwommenheit, Wischiwaschi. Die Klassizität der klaren Linie, die Verdi vorschwebt, findet ihr Korrelat in der einwandfreien Konstruktion des Librettos im Stil der Nummernoper: "no 14: Preludio, scena ed aria; no 15: duo; no 16: scena e terzetto; no 17: scena e coro nel finale". Der Komponist erlebt dabei das Paradox, das Strawinsky in die Worte fasste: "Je mehr ich mich einschränke, desto grösser wird meine Freiheit."

 

Die Stabilität des Gerüsts und die Konzentration auf die Essenz der Charaktere (mithin ihre Steigerung zum Typ) führen zu einer Komposition von einmaliger Geschlossenheit, Schönheit und Eingängigkeit. Und hier liegt das Ziel. Denn "das Fassliche wird uns immer zuerst ergreifen und vollkommen befriedigen" (Goethe).

 

Die ästhetische Anschauungsweise, die hinter dem "Maskenball" steht, ist uns indes vollständig fremd geworden. Sie hat ausgedient; ist abgesunken in die Trivialkunst und wirkt auf heutige Betrachter museal. Aber streng genommen dürfen wir nicht behaupten, sie sei überholt. "Auf dem Gebiete der Kunst gibt es keinen Fortschritt", stellte Max Weber fest. "Ein Kunstwerk, das wirklich 'Erfüllung' ist, wird nie überboten, es wird nie veralten; der einzelne kann seine Bedeutsamkeit für sich persönlich verschieden einschätzen; aber niemand wird von einem Werk, das wirklich im künstlerischen Sinne 'Erfüllung' ist, jemals sagen können, dass es durch ein anderes, das ebenfalls 'Erfüllung' ist, 'überholt' sei."

 

Der kulturgeschichtlichen Gerechtigkeitsliebe des grossen Soziologen hat sich Regisseurin Adriana Altaras in Bern nicht unterworfen. Sie meint, dass "für uns" Verdis Starre archaisch anmutet und dass "wir heute" einen andern Blick aufs Werk werfen müssen als sein Autor. So ist die Inszenierung tingiert mit einem Gemisch von Misstrauen und Besserwisserei. Das führt zu Verwischung, ja Verunklarung der Struktur. Damit verfehlt die Produktion bei aller Konventionalität den zentralen Werkgedanken. (Das idiotische Gezänk über "Regietheater oder nicht" greift also, wie das Beispiel zeigt, zu kurz. Es geht nicht um die "querelle des anciens et des modernes", sondern um die Frage, ob eine Aufführung den Kern – einen Kern – der Sache trifft. Und da können, siehe "Maskenball", gemässigt konventionelle Ansätze ebenso versagen wie avantgardistische.)

 

Bühnenbildner Christoph Schubiger und Kostümbildnerin Nina Lepilina stellen die Handlung in einen Rahmen, der vom Palast bis in den Slum und von der Entstehungszeit der Oper bis in die Gegenwart reicht. Die optische Opulenz, die dabei entfaltet wird, ist dem Genre angemessen, das Konzept überzeugt. Die politische Dimension, in die der "Maskenball" hineinragt, wird von der Ausstattung zugespitzt auf die Alternative: Republik oder Monarchie? In der Bürosuite des Grafen von Warwick lehnt die Darstellung des Vierwald­stättersees, die uns aus dem schweizerischen Nationalratssaal bekannt ist, um 90 Grad verdreht an der Wand. Offenbar ist es mit der Epoche der Volksvertretung schon vorbei. Nun sorgt der Führer fürs Volk. Demgemäss singt der Chor der Funktionäre und Schranzen: "Seine Gedanken gelten unserem Wohl" (Il nostro bene oggetto / De suoi pensier farà). - Im dritten Akt streichelt Riccardo schon heimlich den Königsmantel wie im Jahr 44 v.Chr. Caesar den Goldlorbeer. - Wenn es aber nicht um Staatsaktionen oder Maskenbälle geht, tragen die Menschen auf der Bühne heutige Kleider. Sie benutzen das i-Phone und machen Selfies.

 

Angetrieben vom Vorsatz, die Oper der Gegenwart nahezubringen, scheut die Regisseurin vor kompakten Chormassen und statischem Rampengesang zurück. Sie löst den Chor in Individuen auf und verlangt von den Sängern Aktion, um das Steharienprinzip zu unterlaufen. Damit verrät die Produktion den Geist der Musik und bleibt im Halbgelungenen stecken: Zwar sind die Kostüme der Sänger heutig, aber ihre Bewegungen sind es nicht. Zwar sollen die Sänger während der Arien agieren, aber dafür greifen sie zum Gestenrepertoire der konventionellen Opernästhetik.

 

Dieser Mangel an gedanklicher Strenge hat zur Folge, dass die zentrale Stelle, das Liebesduett Amelia-Riccardo, eklatant danebengeht. Die Liebenden, die das Schicksal um Mitternacht auf einem regennassen Friedhof zusammenführt, können ihre Brunst nicht unterdrücken, sondern greifen sich an die Kleider, schieben einander den Rock hoch und den Hosenlatz herunter - - ausgerechnet an der Opernstelle, für die Verdi eine ganz neue, kühne, nie zuvor gedachte Liebesszene geschrieben hat. Da sind zwei einander verfallen und bleiben dennoch rein, indem sie sich nicht anfassen. Die Liebenden zeigen damit etwas vollkommen Unmodernes: "une noblesse de l'âme" (José Carreras), "un sens moral opposé au sens passionnel" (Katia Ricciarelli).

 

Dass die Inszenierung den Kern des "Maskenballs" so arg verfehlt, wird ihr in Bern jedoch nicht zum Nachteil gereichen. Dafür sorgt schon die kantige musikalische Interpretation von Kevin John Edusei, die die Schärfen betont (vielleicht etwas zu sehr auf Kosten des Lieblichen und Sanften). Und dafür sorgt die Stimmstärke des Chors und der männlichen Solisten (vielleicht etwas zu sehr auf Kosten des Pianos).

 

Es gibt zwar in der französischen Musikkritik eine perennierende Debatte, ob heute überhaupt noch jemand Verdi singen könne (einzelne sagen nein, nicht einmal an der Scala, andere sagen ja, zuweilen, etwa wenn die Netrebko die Jeanne d'Arc singt, aber nur gerade unter dem Dirigat Riccardo Chaillys). In Bern jedoch kommt es neben einzelnen falschen Tönen immer wieder zu packenden Momenten. Gesanglich untadelig ist Yun-Jeong Lee als Oscar, nobel und anrührend Miriam Clark als Amelia. Hier ist sogar noch eine Steigerung denkbar, so dass den Frauen, wie immer bei Verdi, die Palme gebührt.

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