Warten auf Godot. Samuel Beckett.

Schauspiel.

Dagmar Schlingmann, Sabine Mader, Alexandra Holtsch. Saarländisches Staatstheater Saarbrücken.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 31. Januar 2016.

 

 

Am 9. Januar 1953 hat Samuel Becket in Paris auf einer Bühne mit dem sprechenden Namen "Théâtre de Babylone" seinen Zweiakter "En attendant Godot" in den Strom der Zeit gesetzt, und seither befährt das kleine Stück mit seinen fünf Passagieren unablässig die Weltmeere. Mit dem sporadisch aufrauschenden Klang von Meeresbrandung (Musik: Alexandra Holtsch) und mit einer Wolken- und Wellenprojektion, die auf eine Heimkino-Leinwand geworfen wird, deutet das Regieteam in Saarbrücken diese Situation diskret an. "Jedoch ist es für ein denkendes Wesen eine missliche Lage, auf einer jener zahllosen, im grenzenlosen Raum frei schwebenden Kugeln zu stehn, ohne zu wissen woher noch wohin", stellte Arthur Schopenhauer fest. Ab und zu dringt ein leises Zirpen durch die Luft, das an die Funksprüche erinnert, die wir ins schweigende All senden oder das All zu uns, wer weiss, nur fehlen uns dafür die Rezeptoren.

 

Auf ihrer Reise durch die Zeit haben sich die Personen seit 1953 verändert. Anfangs hatten sie noch das verhalten vibrierende Pathos der grossen Tragöden. Dann wurden sie leichter, artistischer, ja gar zirzensisch. In Saarbrücken sind sie jetzt bei uns angekommen. Wladimir und Estragon sprechen und benehmen sich wie Leute von nebenan, haben nichts Fremdes und Unvertrautes mehr. Absurd ist nicht, was sie sagen und tun, sondern ihre Situation. Im Lauf der Jahrzehnte aber sind sie aufeinander zugewachsen. Heute funktionieren sie wie zwei Teile eines Systems, wie die Partner einer alteingespielten ehelichen Dyade.

 

Wenn wir Christian Higer und Andreas Anke "Beim Warten auf Godot" zuschauen (so heisst sinnigerweise der französische Originaltitel), verstehen wir ihre Geschichte zwar nicht im Detail, können aber ihre Befindlichkeit nachvollziehen, weil sich in ihr ein Allgemein-Menschliches ausdrückt, das uns vertraut ist und in dem wir uns wiedererkennen.

 

Ganz eine andere Beleuchtung erfährt die Welt aber, sobald Pozzo und Lucky hereinbrechen. Das ungleiche Paar, in dem sich die archaische, von Hegel beschriebene Herr-Knecht-Dialektik realisiert, kommt aus einer andern Dimension. In ihrem faszinierenden Zusammenspiel realisiert sich die rätselhafte Kraft des Dämonischen.

 

Verkörpern Wladimir und Estragon das Gefangensein in der ewigen Gegenwart, so bringen Klaus Meininger als Pozzo und Cino Djavid als Lucky das Einst ins Spiel; das Einst als gestern und das Einst als morgen; also Vergangenheit und Zukunft. Dazu nochmals Schopenhauer: "Dass Tage unsers Lebens glücklich waren, merken wir erst, nachdem sie unglücklichen  Platz gemacht haben. ... Das Glück liegt demgemäss in der Zukunft oder auch in der Vergangenheit, und die Gegenwart ist einer kleinen dunkeln Wolke zu vergleichen ..."

 

Während das Stück seit seiner Uraufführung durch die Zeiten trieb (die Spielfläche von Sabine Mader deutet das Floss der Medusa an), haben die Spieler unzählige Male gewechselt. Die Kleider, die Hüte, die Schuhe der Vorfahren liegen nun als Relikte durcheinander­geworfen auf den Brettern. Der Anblick gemahnt an die Güterrampe von Auschwitz und verschärft die Grundtatsache, dass alle, die heute Kleider tragen, eines Tages daraus fahren und sie als leere Hüllen zurücklassen werden – die Schauspieler in der Saarbrücker Feuerwache so gut wie die Zuschauer.

 

In der intelligent andeutenden und aktualisierenden Inszenierung von Dagmar Schlingmann wird somit erfahrbar, was Arthur Schopenhauer in die Worte fasste: "Es ist wirklich unglaublich, wie nichtssagend und bedeutungsleer, von aussen gesehn, und wie dumpf und besinnungslos, von innen empfunden, das Leben der allermeisten Menschen dahinfliesst. Es ist ein mattes Sehnen und Quälen, ein träumerisches Taumeln durch die vier Lebensalter hindurch zum Tode, unter Begleitung einer Reihe trivialer Gedanken. Sie gleichen Uhrwerken, welche aufgezogen werden und gehen, ohne zu wissen warum; und jedesmal, dass ein Mensch gezeugt und geboren worden, ist die Uhr des Menschenlebens aufs neue aufgezogen, um jetzt ihr schon zahllose Male abgespieltes Leierstück abermals zu wiederholen, Satz vor Satz und Takt vor Takt, mit unbedeutenden Variationen."

 

Wer jetzt einwenden möchte, das Gesagte sei Philosophie und nicht mehr Theaterkritik, geschweige denn Beschreibung der Saarbrücker Produktion, verkennt, dass Theater, wenn es den Kern der Dinge trifft, immer anregend ist und in den Zuschauern Prozesse auslöst, die sie auf Gedanken bringen. Das verbindet das Spiel der wundervollen Saarbrücker Schauspieler mit den Manifestationen der grossen Kunst.

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