Vor Sonnenuntergang. Gerhart Hauptmann.

Schauspiel.                  

Janusz Kica, Karin Fritz. Theater in der Josefstadt.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Januar 2016.

 

 

Die Geschichte des siebzigjährigen Unternehmers, der von seinen Kindern entmündigt wird, weil er sich in eine junge Frau verliebt hat und mit ihr ein neues Leben beginnen möchte, ist in einem Satz erzählt. Bedeutsamer als das Was ist das Wie – auch wenn das Thema in unserem Jahrhundert durch die Überalterung der Gesellschaft und die Vermehrung der Demenzfälle eine ungeahnte Aktualität gewonnen hat.

 

"Vor Sonnenuntergang" beginnt mit der Familienfeier zu Ehren eines Patriarchen, dem der Titel eines Geheimen Herrn Kommerzienrats verliehen wird. Diese Ausgangssituation erlaubt es Gerhart Hauptmann, alle Beteiligten zusammenzuführen und dem Publikum vorzustellen. Ein Jugendfreund, der nach langer Abwesenheit aus London angereist ist, wird über den Stand der Dinge informiert – und das Publikum gleich mit. Unter die Gäste gemischt ist die Geliebte des Unternehmers, aber bloss als flüchtige Erscheinung. Sie wird gesehen, aber nicht wahrgenommen. Der volle Umfang der Figur (und auch deren goldener Kern) tritt erst im weiteren Verlauf der Handlung hervor, und je stärker die Finsternis über den Kommerzienrat hereinbricht, um so heller strahlt sie.

 

Mit der Familienfeier stellt der erste Akt die Fallhöhe her, an der sich das Mass der Tragik ablesen lässt, die zum Selbstmord führt, nachdem der Verstossene wie der verwirrte König Lear von seinen Kindern in die Wüste geschickt wurde. Und da wird spürbar, was den Dichter ausmacht: Nicht das Wort, sondern das, was hinter den Worten liegt. An der jungen Generation seiner Zeit geisselt der siebzigjährige Hauptmann Egoismus und philiströse Herzensenge (wie, wenig später, der 37jährige Ödön von Horváth in "Jugend ohne Gott"). Sie bringt den Pulsschlag hoffender und verletzlicher Lebendigkeit zum Erliegen.

 

Durch die Erfahrung seelischer Würde schenkt Hauptmann den Zuschauern die Teilhabe an Dimensionen des Menschlichen, von denen die Mediokren, wie Nestroy ausplauderte, nichts wissen: "Wer in der Fruh aufsteht, in die Kanzlei geht, nachher essen geht, nachher präferanzeln [kartenspielen] geht, und nachher schlafen geht, der vegetiert".

 

Mit dem Einbezug Goethes, seiner Werke und Figuren (die Kinder des Unternehmers heissen Ottilie, Wolfgang, Egmont) thematisiert das Stück auch den Unterschied von Geschäft und Leben. Der Geheime Kommerzienrat weiss noch, dass das Wort "Geschäftsleben" einer contradictio in adiecto gleichkommt. Die nachfolgende Generation schon nicht mehr. Daher der Konflikt.

 

Um diesen Gegensatz zu zeigen, setzt die Ausstatterin Karin Fritz die Drehbühne ein. Resultat: Die Situation bleibt stets dieselbe, egal, von welcher Seite man sie anschaut. Und Regisseur Janusz Kica verrät mit den Gängen, dass die Bewegung der Figuren bloss Geschäftigkeit und Nervosität ausdrückt, nicht aber weiterführt. Die grossen Schauspieler der Josefstadt zeichnen die Grenzen ihrer kleinen Figuren genau und redlich nach, ohne sie lächerlich oder verächtlich zu machen. Damit erkennen wir in Hauptmanns Schauspiel unser eigenes unbedeutendes Wesen wieder.

 

Einer nur ragt aus den vielen heraus: der Kommerzienrat, den Michael König gibt. Der vom Negotium gefesselte Monarch, der sich befreien und in die Daseinsform bedingungsloser Liebe werfen wollte, wo Schenken und Empfangen zusammenfallen (im Gegensatz zu "Einnahmen" und "Ausgaben" in der Buchhaltung), erreicht am Ende seiner Lebenskurve die Grösse eines Schicksals, die erfahrbar macht, dass nicht nur ein Mensch untergeht, sondern ein Zeitalter und eine Welt­anschauung.

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