Totes Gebirge. Thomas Arzt.
Schauspiel.
Stephanie Mohr, Miriam Busch. Theater in der Josefstadt.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 28. Januar 2016.
In der Akademie, dem kleinen Haus des Burgtheaters, laufen jetzt wieder die "Präsidentinnen", sozusagen als postume Wiedergutmachung. Zu Lebzeiten des Autors hatte die Dramaturgie des Burgtheaters das herrlich abgründige, fäkalisch-gruselige Drei-Frauen-Stück von Werner Schwab verkannt und zurückgewiesen.
Beinah wär's dem diesjährigen Träger des angesehensten englischen Literaturpreises ähnlich ergangen. Zehn Jahre lang hatte László Krasznahorkai sein Manuskript von Verlag zu Verlag geschickt und schon entmutigt den Entschluss gefasst, das Schreiben aufzugeben, als er mit einem Schlag die höchste Anerkennung erfuhr, die die angelsächsische Buchwelt zu vergeben hat: den International Booker Prize.
Wer daraus schliessen möchte, dass nur verkannte Autoren Literatur von Rang hervorbringen, liegt vielleicht nicht ganz falsch. Der Name Goethe, heute jedem Kreuzworträtsellöser geläufig, bedeutete den Zeitgenossen so gut wie nichts. Zwischen 1787 und 1790 erschienen Goethes "Gesammelte Schriften" bei Göschen. Von "Clavigo" wurden 17, vom "Götz" 20, von der "Iphigenie" 312, vom "Egmont" 377, vom "Werther" 262 Exemplare verkauft. Der Verleger verlor beim Unternehmen 1700 Taler.
Nach Goethes Tod stammten die bedeutendsten Nachrufe aus dem Ausland. Die Nekrologe, die das "Cotta'sche Morgenblatt" und das "Hamburger Literaturblatt der Börsenhalle" veröffentlichten, waren nämlich nichts anderes als Übersetzungen einer Totenrede, die François Auguste Saint-Marc Girardin fürs Pariser "Journal des débats" verfasst hatte.
Wer aus diesen Tatsachen im Umkehrschluss folgern möchte, ein 32jähriger Autor, dessen Stücke schon am Schauspielhaus Wien, den Theaterfestivals von Berlin, Hamburg, Washington und New York gezeigt wurden, der am Heidelberger Stückemarkt mit dem Autorenpreis ausgezeichnet wurde und der seither unter anderem für die Wiener Festwochen, das Volkstheater Wien, das Schauspielhaus Graz, das Nationaltheater Mannheim, das Theater St. Gallen und das Theater in der Josefstadt Dramentexte und Monologe schrieb – - wer aus diesen Angaben also folgern möchte, ein solchermassen Geförderter unterliege den Gesetzmässigkeiten, die Nicolás Gómez Dávila beobachtete, liegt ebenfalls nicht falsch. Der kolumbianische Selberdenker nämlich konstatierte: "Die Förderung der Kultur schwächt sie." Und: "Das Theater ist der Ort, an dem die unbedeutenden Werke Vergeltung üben."
Was unter diesen Auspizien bei Gremien und Dramaturgien ankommt, sehen wir jetzt auf der Bühne des Josefstädter Theaters: Themen statt Handlungen, Krankheitsfälle statt Menschen, Zustände statt Abläufe. - Das Thema in Thomas Arzts Stück ist der Wahnsinn, und der Zustand ist das österreichische Irrenhaus oder, so ist zu vermuten, Österreich als Irrenhaus. Sein Dach ist leck, es schneit und regnet herein, der Föhn droht, den Dachstuhl wegzutragen, doch dann schlägt das Wetter wieder in eisigen Winter um. Man wird der Metaphorik ungern höchste Raffinesse zugestehen. Im abgebildeten Zustand der Alpenrepublik – der Titel "Totes Gebirge" ist Programm – haben natürlich alle ihren Schaden, die Patienten ohnehin, aber auch der Pfleger (er trägt einen Handverband) und die Frau Doktor. Sie ist eine Kognak-Katze, hat ein aufgeschürftes Knie und ist in Wirklichkeit ein Fräulein, gleich wie Mathilde von Zahnd in Dürrenmatts "Physikern."
Man sieht: Thomas Arzt hat viel gelesen. Er war Gasthörer an der Filmhochschule München und studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft sowie Germanistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Wien. Es geht ihm leicht von der Hand, in seinem postdramatischen Arrangement, das als Stück aufgefasst werden möchte, bildungsbürgerliches Strandgut zusammenzusammeln. Im Bühnenbild werden Raimund, Schikaneder und Nestroy zitiert (die Hausheiligen der Josefstadt), und im Text (selbstverständlich ohne Autorenangabe, das wäre dann doch zu akademisch) der philosophische Hotelportier aus Schnitzlers Komödie ("Die Seele ist ein weites Land") und der besoffene Schuster aus Nestroys Posse "Lumpazivagabundus" ("Aufs Jahr kommt der neue Komet, der die Welt z'grund richt"). Die Musik nimmt ihrerseits Bezug auf die Klaviersonate Nr. 16 in a-Moll von Franz Schubert (D 845).
Obgleich Thomas Arzt bloss Krankheitsfälle beschreibt, gelingt es dem vorzüglichen Josefstädter Ensemble trotzdem, seine Stärken auszuspielen, die darin liegen, durch Einfühlung Menschen zu schaffen, die uns ans Herz gehen, sogar wenn die Drehbühne, die in allen angesagten Inszenierungen obligat ist, immer wieder die Rückseite der Kulisse zeigt und damit – ein weiteres Zitat (diesmal von Brecht) – verfremdend wirken möchte (Bühne: Miriam Busch), gleich wie der Gesang, ein Formzitat aus den Marthaler/Viebrock-Produktionen. Natürlich werden die Lieder durch Headsets übertragen; das ist obligat für alle angesagten Inszenierungen (Regie: Stephanie Mohr).
Kennzeichen der Uraufführung, in der nichts läuft ausser einer schüchternen, aber nach der Pause schon abgewürgten Liebeshoffnung, ist also orientierungslose Epigonalität, die man als Signatur unserer Zeit auffassen könnte. Insofern ist das "Tote Gebirge" ein Abbild des Jahres, in dem es zur Uraufführung kam.
Die Autoren, die nach Schillers Tod fürs Theater schrieben und sich zu schwach fühlten, ihre Werke auf seine Höhe zu bringen, fassten sich als "Epigonen" auf. Sie sind heute, zu recht, vergessen. Die Zeit der Dürre dauerte achtzig Jahre. Dann erschien wieder ein Talent von Rang und brachte das Drama voran: Gerhart Hauptmann. Ihm folgten Schnitzler, Wedekind, Brecht, und zuletzt Friedrich Dürrenmatt, der vor zwanzig Jahren gestorben ist. Wenn wir Pech haben, müssen wir jetzt noch weitere sechzig Jahre Epigonalität erdulden.