Egmont-Ouvertüre. Ludwig van Beethoven.

Schauspielmusik.                  

Jos van Immerseel. Anima Eterna Brügge im Auditorium von Dijon.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 6. Februar 2016.

 

 

Gut, gibt es den TGV. Dank ihm kommt man in drei Stunden von Bern zu Anima Eterna, dem Spitzenorchester, das aus unerfindlichen Gründen nie in die Schweiz eingeladen wird. In Dijon aber ist es "orchestra in residence", und hier beendet es nun eine Tournee, die es von Brügge aus, wo es beheimatet ist, um die Welt geführt hat. Erste Station war Brüssel, dann die Alte Oper von Frankfurt am Main, dann das Mexico Festival, dann Mexico City, dann New York (Lincoln Center), dann das Sidney Festival mit Schlusskonzert im ausverkauften Opernhaus. Das Projekt-Orchester, das für jedes Programm die Musiker, die Instrumente und die Spielweise neu definiert, war diesmal mit allen Beethoven-Symphonien unterwegs. In Dijon spielt es nun zum letzten Mal die Eroica und die Egmont-Ouvertüre. Dazwischen Webers zweites Klarinettenkonzert.

 

Gleich anfangs fällt auf: Jos van Immerseel dirigiert nicht fürs Publikum, sondern für die Musiker. Das heisst, er dirigiert eigentlich nicht. Seine Tätigkeit liegt vielmehr im Aufpassen, im Sorgetragen, dass alle "drin" sind, im Stück, im Satz, in der Passage. Mehr braucht es nicht. Denn die Musiker wissen, worauf die Komposition hinauswill. Gelingt es ihnen, die Zielvorstellung zu realisieren, stellen sich Charakter und Schönheit des Stücks von selber ein, mithin spielend. Die Musik schafft damit den Schritt von der Immanenz in die Transzendenz.

 

Das sind grosse Worte, gewiss. Aber es passiert eben auch Grosses in der hingebungvollen, sensiblen Spielweise der Musiker, dass einem immer wieder der Atem stockt. Schon in der Egmont-Ouvertüre. Während die Streicher streichen, der Pauker paukt und die Bläser blasen, ist er plötzlich da, mitten im Saal, der Kampf um die Freiheit, der Beethoven beseelte. In ihm werden das strenge Ethos, das hohe Ideal greifbar, fühlbar, hörbar, die die Begleitmusik zu Goethes Trauerspiel aus der Masse der Trivialitäten herausheben.

 

Das Klarinettenkonzert Nr. 2 von Weber bringt Musik von weniger hohem Anspruch. Oder sagen wir lieber: Musik, geprägt vom Anspruch an die Beherrschung des Instruments, an die Virtuosität. Der erste Satz führt vor, welch aufregende Intervalle die damals erfundene Klarinette möglich macht und wie gross ihre dynamische Reichweite ist, vom verhauchenden Piano bis zum kraftvollen Forte. Und immer wieder gelingt es Weber, gemäss dem damaligen Ideal die Hörer an schöne Stellen heranzuführen. – Im zweiten Satz produziert das Instrument sanft perlende Läufe und verschlungene Arabesken, während im dritten Satz irrwitzige instrumentale Virtuosität hervorbricht, die Lisa Shklyaver gelassen meistert, um für den Schluss des Konzerts zu ihrer dienenden Rolle im Schoss des Orchesters zurückzukehren.

 

Und nun die Eroica. Jos van Immerseel gewinnt dem (zu) oft gehörten Stück neue Seiten ab. Die lauten, energischen Passagen, deren zerklüftete Architektur das romantische, aber auch das historisierende Klangideal zu betonen pflegte, erscheinen hier weltmännisch-beherrscht, ja beinah elegant im unaufgeregten Stil der Wiener Klassik. Dieser post­historisierende Ansatz führt zu einer packenden Aufwertung der leisen Momente. Und da erweist sich Jos van Immerseels Dirigierkunst als Kunst des Diminuendos. Seine Interpretation führt durch kaum mehr hörbare Pianissimi an die Stille jenseits der Töne heran, und man erfährt, dass Beethoven in der Eroica Ewigkeitsinseln ins akustisch bewegte Meer der Zeit gesetzt hat. So bringt Immerseel seinen Hörern nicht bloss einen Konzertgenuss, sondern eine Erkenntnis.

 

Ein Glück also, kann man mit dem TGV nach Dijon fahren, um solcher Schönheit eigener Observanz beizuwohnen. Aber Achtung: Der nächste Auftritt von Anima Eterna, für März programmiert, ist seit Dezember ausverkauft.

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