Das Erdbeben in Chili. Heinrich von Kleist.
Schauspiel.
Ari Benjamin Meyers, Ulrich Rasche, Romy Springsguth. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 4. Oktober 2015.
Grundsätzlich kann man sich fragen, ob das "Erdbeben in Chili" überhaupt auf die Bühne gehört. Heinrich von Kleist, der in seinem kurzen Leben acht Theaterstücke verfasste, von denen fünf zu den grössten gehören und bleiben werden (Der zerbrochene Krug, Amphitryon, Penthesilea, Das Käthchen von Heilbronn, Prinz Friedrich von Homburg), hat auch Erzählungen geschrieben (ebenfalls acht), darunter, nach "Michael Kohlhaas" und der "Marquise von O...", auch das "Erdbeben". In Drama und Prosa schuf also der junge Mann Meisterwerk auf Meisterwerk. "Kleists Novellen stehen in der deutschen Erzähltradition individuell, im eigentlichen Sinne unnachahmlich da", konstatierte etwa Werner Kohlschmidt. Was uns an seinen Werken erschüttere, wies Emil Staiger nach, "ist die unerbittlich durchgeführte dramatische Form an sich". Da habe Kleist "das Höchste erreicht".
Wenn nun dieses – sagen wir's ruhig: Genie die einen Stoffe der Epik und die andern Stoffe dem Drama zuweist, so liegt das daran, dass sie nur in der einen (und nicht in der anderen) Gattung Vollkommenheit erreichen können im Sinne von Schillers Wort, dass der Dichter einzig durch das Wie der Darstellung und nicht durch das Was des Stoffes wirken soll.
Prüft man nun Kleists Novelle darauf, ob sie sich für die Bühne eignet, zeigt sich schon bei flüchtigem Blick, dass sich die Erzählung jeder Formveränderung widersetzt. - Zu viele Schauplätze: das Gefängnis, die Stadt, das Kloster, das Tal mit "einer Quelle, die die Schlucht bewässerte", die Dominikanerkirche... Zu viel Aktion: "Hier stürzte ... ein Haus zusammen ... hier leckte die Flamme schon aus allen Giebeln ... hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapachafluss ... hier schrien Leute von brennenden Dächern herab..." - Zu viele Mitwirkende: Auf den Berggipfeln haben "sich die Menschen versammelt"; auf den Wegen bewegt sich "der Strom der Flucht ... Auf den Feldern, soweit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen", und in der Dominikanerkirche wogt "eine unermessliche Menschenmenge", ja "das Gedränge" erstreckt sich "bis weit vor den Portalen auf den Vorplatz hinaus." - Daneben kaum Dialog; vorwiegend indirekte Rede: "In Don Fernandos Gesellschaft ward die Frage aufgeworfen, ob...", "Man erzählte, wie...", "Unendliches hatte sie zu schwatzen vom Klostergarten und den Gefängnissen, und was sie umeinander gelitten hätten". Um so wirkungsvoller dann die Ausrufe an den Höhepunkten der Handlung: "O Mutter Gottes, du Heilige!" – "Wo?" "Hier!" – "Steinigt sie! steinigt sie!"
Für diese Meisternovelle – die 24 Stunden eines Katastrophentags auf zwölf Seiten zusammenfasst – bedeutet Dramatisierung im herkömmlichen Sinn mithin Verlangsamung, Verbreiterung, Auflösung der gedrängten Knappheit ins umständliche Nacheinander des Actionfilms. Was die Bühne dazugibt, indem sie Kleists Abbreviaturen ausmalt, gefährdet die Geschlossenheit der Erzählung; das szenische Mehr führt zu einem künstlerischen Weniger.
Es war darum klug und sinnvoll, dass das behutsame, wache Berner Team darauf verzichtete, "St. Jago, die Hauptstadt des Königreichs Chili" auf die Bretter zu bringen. Stattdessen zeigte die Spielfläche im schwarzen Raum von Vidmar 1 bloss eine schwarze, geneigte Drehscheibe (Regie und Bühne: Ulrich Rasche), auf der fünf Schauspieler, zurückhaltend als Sprecher kostümiert (Romy Springsguth), nacheinander auftreten (Kornelia Lüdorff, Deleila Piasko, Nico Delpy, Toni Jessen, Sebastian Schneider), um die Erzählung im wesentlichen so vorzutragen, wie sie Kleist geschrieben hat. Das einzige, was sich gegenüber dem gedruckten Text ändert, ist, dass er nun eine, nein fünf Stimmen bekommt, die den grausigen Höhepunkt der Erzählung in chorischem Sprechen vortragen und damit zu unauslöschlicher Wirkung steigern.
Die Drehscheibe (wer will, kann sie als Anspielung aufs Rad der Fortuna lesen) zwingt die Schauspieler, ihre Beine in Bewegung zu halten, wenn sie nicht wie Karussellpferde an den Zuschauern vorbeiziehen wollen, und diese Bewegung überträgt sich auch auf ihre Körper. Die bewegten Sprecher antworten damit auf abstrakte Weise der Musik, die Ari Benjamin Meyers für E-Bass und Marimbaphon geschrieben hat. Seine Partitur enthält vorwiegend tonale, rhythmisch gegliederte minimalistische Figuren, die zuweilen autonom, zuweilen unterstützend die Dimension des Erzählgeschehens erweitern und den Pulsschlag von Kleists Prosa erfahrbar machen.
Am Ende stellt sich die Frage: "Lesen oder anschauen?" nicht mehr. Das Berner Team hat für das "Erdbeben in Chili" eine gültige szenische Form gefunden. Die Aufführung bringt ein Mehr an Eindringlichkeit und Wucht; man wird sich auch beim Lesen nach dieser Verlebendigung zurücksehnen.