Hiob. Joseph Roth.
Schauspiel.
Ingo Berk, Damian Hitz. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 20. September 2015.
Für die Truppe, die in "Hiob" auftritt, würde sich manches Theater "die Finger schlecken bis zum Ellenbogen" (Gotthelf): Das Volkstheater Wien gewiss, dessen Zahl der Festengagements in den letzten zehn Jahren von 36 auf 14 zurücksank; aber auch das Burgtheater, das in der Ära Hartmann dermassen heisslief, dass niemand mehr genau darauf achtete, wer alles auf die Bühne kam; nicht zu reden von der Mehrzahl der deutschen Staatstheater und den von Abwicklung bedrohten kommunalen Bühnen. Und jetzt also bei uns, weit weg vom Schuss, in der Könizer Pampa hinter "Fressnapf" und "Tauchsport Käser", dieses Wunderensemble.
Das beginnt mit dem Erzähler (Jürg Wisbach), hinter dessen vornehmer Erscheinung bereits die Differenzierungskunst des grossen Könners spürbar wird. Wenn er uns in die Verhältnisse des jüdischen Dorfschulmeisters Mendel Singer einführt, dessen Tage zwischen Frau und Kindern fromm und gottesfürchtig dahinrinnen "wie ein kleiner armer Bach zwischen kärglichen Ufern" (Joseph Roth), so bewegt sich der Schauspieler sicher auf dem schmalen Grat von Einfühlung und Distanziertheit – er kommt von drüben und spricht zu uns, und gleichzeitig ist er bei uns und schaut nach drüben – und damit realisiert sich in der Vidmar-Halle schon nach wenigen Sätzen das Wunder der Aura, die Walter Benjamin definierte als "Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag". Dieser Hauch aus der Tiefe der Geschichte, die von Moses und den Vätern herkommt und nun in unsere Gegenwart hineinreicht, prägt auch die Sprache Joseph Roths, der mit "Hiob" den Weg zum grossen Roman fand, der sich in den Folgejahren in "Radetzkymarsch" und "Kapuzinergruft" realisierte.
Die Differenzierungskunst, die sich beim Erzähler im ersten Auftritt andeutet, führt im Lauf des Abends zu einer Folge meisterhafter Porträtskizzen, mit denen Jürg Wisbach alle Episodenfiguren auf die Bühne bringt, deren die Handlung bedarf, um voranzukommen. Und gleichzeitig macht die Trefflichkeit dieser Figurenzeichnung klar, welch ein Glück es war, Regisseur Ingo Berk mit der Bearbeitung des Romans zu beauftragen und Bearbeiter Ingo Berk mit der Regie.
Was die Bühne zur Darstellung bringt, setzt Inhalt und Duktus von Joseph Roths Roman meisterlich in die szenische Dimension um. Das zeigt sich schon in der Gestaltung der Sprache, in der sich das Geschehen entfaltet. Im Schauspiel ist ja der Regisseur sein eigener Komponist; und zur Partitur, die er in den Proben erarbeitet, gehören nicht nur Töne und Rhythmen, sondern auch Schweigen und Stille. Die Komposition von Ingo Berk, die Sprache, Musik, Raum, Licht und Handlung ins Spiel bringt, zeichnet sich aus durch eine imponierende Treue gegenüber dem Romantext und durch ein "fast unmerklich Hinzutretendes", ein "Leisestes, ein Fingerheben vielleicht, ein fragender Blick". Die Grösse dieser Inszenierung liegt damit in ihrer Unauffälligkeit und Zurückhaltung. Ingo Berk führt seine Schauspieler "wissend ... aber so, 'als täte er nicht". Damit hat die Produktion alle Zeichen einer grossen, gelassenen Selbstverständlichkeit; "und das Tun aus der Sammlung hat das Antlitz des Ruhens" (Martin Buber).
Ruhig und gelassen werden denn auch die beiden wuchtigen Charaktere geführt, Mendel Singer und seine Frau Deborah. Verstörend wie die Figuren des Alten Testaments ragen sie in die Gegenwart der Vidmar-Hallen hinein. Mendel, der, wie seine Vorfahren, Gottesfurcht mit Gesetzestreue gleichsetzt, kommt unter dem Joch eines vormodernen starren Glaubens zum Wunder der Erlösung: "Siehe, ich mache alles neu." Für die tiefe Gottesbeziehung, in der er steht, haben wir in unserem Wisch-und-weg-Zeitalter kaum mehr Rezeptoren. Alles, was Mendel Singer zustösst, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang, ist Teil eines unablässigen Dialogs der Seele mit ihrem Gott: "Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe, du weisst es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, du ermissest es, mit all meinen Wegen bist du vertraut. Ja, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, o Herr, nicht wüsstest. Du hältst mich hinten und vorn umschlossen, hast deine Hand auf mich gelegt." (Psalm 139)
Deborah, die Mutter, ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Mendel. Nur ist ihr Sinn nicht aufs Jenseitige, sondern aufs Diesseitige gerichtet. Schön, wie das die Inszenierung zur Darstellung bringt: Während Mendel (Stéphane Maeder) im Gebet den Blick nach oben wendet, scheuert Deborah auf den Knien den Boden. Und während er seinen Schatz im Himmelreich hat, verbirgt sie ihre 26 Rubel und 70 Kopeken unter den Dielen. Aber im Herzen ist sie genauso stark und genau so schwach wie ihr Mann. Das packende Spiel von Milva Stark bringt die Grösse dieses Frauen- und Mutterschicksals eindrücklich zur Darstellung.
Am Ende der Aufführung erscheint der geopferte Sohn (Lukas Hupfeld), der als Krüppel nur ein rauhes "Mama!" hervorstossen konnte, nun rein und leuchtend wie ein Engel des Herrn. An ihm hat sich das Wunder vollzogen, dass sein Geist erwachte und ihn zum begnadeten Künstler machte – aber nicht dank den Gebeten der Eltern, sondern dank den Ärzten in St. Petersburg. Mit dieser ironischen Pointe unterstreicht Joseph Roth, dass Gott die Seinen wunderlich führt, "denn meine Wege sind nicht eure Wege". Der Junge, den wir bis zur Pause stumpfsinnig am Boden kauern sahen, steht nun aufrecht dem Vater gegenüber, und seine Lippen entströmt ein ungewöhnlich reines, klangvolles Deutsch. Offensichtlich ein Talent.
Die Geschichte von Mendel Singer spielt in einem Einheitsbühnenbild, dem Kielraum eines Schiffes, der sich von der Mitte bis zum Bug hin erstreckt (Damian Hitz). Das erlaubt den raschen Wechsel von Ort und Szene. Gleichzeitig schafft die Konstruktion eine Vielzahl von Abteilungen. Wenn gesagt wird: "Hier, dieses Zimmer kannst du haben", so wird der Raum durch Kiel und Spanten klar definiert. Zudem wird das ganze Geschehen gefasst durch das Emblem des Schiffes, das Mendel Singer durch seinen "bestürmeten Lebens-Lauff" führt, bis ihm das Gebet entfährt, das die Barockdichterin Catharina Regina von Greiffenberg in die Worte fasste: "bring’ an den Hafen mich / mein GOtt / es ist genug!"