Greek. Mark-Anthony Turnage.
Oper.
Hans Christoph Bünger, Teresa Rotemberg, Nic Tillein. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 14. September 2015.
Teresa Rotemberg und Nic Tillein: Die beiden Frauen sind es, die für diese sichere, wirkungsstarke Produktion zeichnen. Man merkt es der Aufführung nicht an, dass es sich für Teresa Rotemberg um ein Debüt handelt (jedenfalls auf dem Gebiet der Oper). Dafür merkt man, dass die Regisseurin im Umgang mit Raum und Körpern reiche Erfahrung und grosses Geschick erworben hat, und diese Vorzüge kommen jetzt Mark-Anthony Turnages "Greek" zugute.
Begonnen hat Teresa Rotemberg als Tänzerin in Ulm, Zürich und Stuttgart. Dann gründete sie eine eigene Tanztheatercompany. Sie choreographierte an der Staatsoper Wien und am Opernhaus Zürich. Vor zehn Jahren begann sie, auch als Schauspielregisseurin zu arbeiten. Und wie das Beispiel von Ruth Berghaus zeigt, die auch als Tänzerin anfing, und dann über die Choreographie zur Schauspiel- und Opernregie fand, kann ganz Ausserordentliches entstehen, wenn es einer Person gelingt, die Erfahrung aus den verschiedenen Sparten (Text, Musik, Raum, Bewegung) in ihre Projekte zu integrieren.
In Bern nun zeigt sich Teresa Rotembergs Transdisziplinarität (ein furchtbares Wort) in der Kompetenz (ein anderes furchtbares Wort), mit der sie ihre Skills (ein weiteres furchtbares Wort) einbringt, um einer schwachen Vorlage Leben und Konsistenz zu leihen.
Sie macht das, indem sie dem Ensemble im wahrsten Sinn des Wortes Haltung gibt. Wenn man die Darsteller agieren sieht, vergisst man, dass es sich um Sänger handelt, und man staunt, wie wandlungsfähig und ausdrucksstark sie in ihren verschiedenen Rollen daherkommen, allen voran die beiden Frauen, das heisst Evgenia Grekova als Mutti (Mum) und Sophie Rennert als Gattin (Wife). Auch wenn die Grekova nicht singt, sondern bloss dasteht, ist sie immer gefüllt mit Ausdruck und Präsenz. Sie stellt ihre Personen sicher hin, überzeugend auch in der Episodenrolle der zweiten Kellnerin.
Noch stärker wirkt Sophie Rennert; nicht nur, weil sie als "Wife" die wichtigere und längere Rolle hat; nicht nur, weil sie mit ihrem Mann (und Sohn) zur Sache geht; sondern auch und vor allem, weil die Selbstverständlichkeit ihres Spiels der Personenzeichnung packende Wahrheit gibt.
Da können die beiden Männer nicht mithalten. Stephen Owen ist zwar zuverlässig, aber eine Spur zu diskret. Und Wolfgang Resch, der den Eddy (und damit den Unterschichts-Ödipus) spielt, bleibt darstellerisch hinter den andern – und auch hinter seiner Rolle – zurück. Er steht (jedenfalls am Premierenabend) neben seiner Figur; das Gemeinte und Gewollte ist stärker als das Gelebte.
Wenn die Aufführung gleichwohl eine einheitliche Signatur hat, ist das dem Leitungsteam der beiden Frauen zu verdanken. Sie evozieren mit klar gesetzten Zeichen den englischen Unterschichtsmief. In der Sorgfalt, mit der sie Figuren und Spielflächen ausstatten, wird ihr Geschick für karikaturistische Prägnanz erkennbar, und in der Zurückhaltung, mit der sie die ätzenden Mittel einsetzen, ihr überlegenes Wohlwollen, oder anders gesagt: ihr feiner Humor.
Die Kuchenglocke auf der Bar-Theke, das Thatcher-Foto auf der Anrichte, die braun gemusterte Schürze der Mutter, das meergrüne Glitzerkleid der Gattin, das alles ist so genau gesetzt, dass es auf Anhieb überzeugt und in seiner Sparsamkeit wirkt – nicht zuletzt dank der klugen Entscheidung, den Raum quer zu bespielen. Wenn schon das Stammhaus wegen Renovation geschlossen ist, wenn schon ins Theater im National ausgewichen werden muss, dann fällt wenigstens auch der Raumzwang des historischen Rangtheaters weg.
Man kann jetzt – und das tun die Frauen – das Orchester beiseiteschieben, das heisst unterbringen auf der Bühne hinter dem Goldportal; man kann den Zuschauerraum zur Hälfte leerfegen, die Sitze um 90 Grad drehen, und schon hat man eine raumgreifend breite Spielfläche, auf der sich die verschiedenen Stationen des Dramas nebeneinander aufstellen lassen. Gleichzeitig rückt das Geschehen eng an die Zuschauer heran, sie sind nicht mehr durch einen Orchestergraben von den Darstellern getrennt.
Nun blickt man auf die Seitenwand des Theatersaals, man sieht den kleinbürgerlich gehäkelten Stoffvorhang, und hinter dem Fenster erkennen wir das Nachbargebäude an der Maulbeerstrasse. Diese Situation benutzte das Leitungsteam, um die Handlung, die in London spielt, von vorne (Zuschauerreihen) und hinten (Nachbarhaus) mit "Bern" einzurahmen, so dass der Mythos auf seinem Weg aus der griechischen Antike übers London der Thatcher-Jahre bis in die unmittelbare, sinnlich erfassbare Gegenwart hineinläuft und sich im Hier und Jetzt des Berner Theaters abspielt.
Wer nun aber Turnages "Greek" mit Sophokles vergleicht, dem fallen vor allem die dramaturgischen Rückschritte ins Auge. In der Oper läuft die Handlung geradlinig von vorne nach hinten. In der antiken Tragödie aber läuft die Handlung von hinten nach vorn. Ödipus nähert sich der Wahrheit schrittweise durch Frage und Antwort, bis seine schuldhafte Verstrickung ans Licht kommt. Sophokles hat damit das erste analytische Drama geschrieben. Die Handlung ereignet sich im Wort (und damit im Geist), nicht auf der Bühne.
Die Oper aber hat sich für eine platte chronologische Erzählweise entschieden, und es macht die Sache nicht besser, dass sich der englische Ödipus selber ansagen muss. Dieses verfremdende Mittel raubt der Handlung die Spannung und betrügt die Dialoge um die Dimension der Hintergründigkeit. Weil das Geschehen nicht mehr in die Sphäre göttlicher Jenseitigkeit ragt wie bei den alten Griechen, bringt "Greek" nicht mehr Fatum (Schicksal), sondern "fait divers", also Stoff für den "Blick am Abend".
Die Oper ist halt die Arbeit eines 26jährigen, der seinerzeit in dreierlei Hinsicht gegen den Wohlanstand verstiess und damit (in seiner Sparte) Furore machte. Mit dem Cockney-Dialekt brachte er erstmals die Gegenwartssprache der englischen Unterschicht in die Gediegenheit der Opernbühne, und gleichzeitig wurden Wörter wie "abspritzen" oder "verpiss dich" sangbar. Daneben griff "Greek" die Premierministerin Magaret Thatcher frontal an, und diese Ausrichtung verstärkte Turnages Ruf eines jungen Wilden, der kompositorisch überdies gegen Donaueschingen und Darmstadt anrannte.
Heute sagt der Komponist, die letzten zwanzig Minuten der Oper, die könne er stehenlassen. Da ist aller Lärm weg. Eddy und Wife dürfen grosse Bögen singen, in der Betroffenheit, in der Ernüchterung, in der Nachdenklichkeit. Dann ist das Stück aus. Turnage, der der Premiere beiwohnte, dankt dem Dirigenten Hans Christoph Bünger und dem Berner Symphonieorchester, und die Musiker applaudieren ihm. Damit ist die 24. Neuinszenierung von "Greek" unter guten Auspizien in die Welt getreten.