Der Besuch der alten Dame. Friedrich Dürrenmatt.
Schauspiel.
Katharina Rupp. Theater Orchester Biel Solothurn.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. September 2015.
Zuerst denkt man: Auwei! Das Volk von Güllen hat sich am Bahnhof versammelt – der Lehrer, der Bürgermeister, die Ärztin, später auch Ill – um Vorbereitungen zu treffen für den Empfang der Milliardärin. "Für meine kleine Rede im Goldenen Apostel sollte ich einige Details über Frau Zachanassian besitzen", sagt der Bürgermeister, und "er zieht", wie es Friedrich Dürrenmatts "tragische Komödie" verlangt, "ein kleines Notizbüchlein aus der Tasche". Doch da ist schon klar: Keiner der Schauspieler ist – obwohl vom Typ her überzeugend besetzt - in der Rolle drin. Wohlaufgestellt stehen sie im Raum herum und werfen sich die Stichworte zu. Sie markieren bloss, was sie sein sollten. Und darum wirkt ihre Haltung angelernt; nicht gefüllt mit Befindlichkeit, personhafter Gegenwart, Hintergrund. So geht einem bei diesem Anfang von Friedrich Dürrenmatts "Besuch der alten Dame" in Biel-Solothurn unwillkürlich durch den Kopf: "Gut gemeint ist das Gegenteil von Kunst." – "Es war Premierennervosität", wird der Intendant in der Pause erklären. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass man von Anfang an sieht: "Da wird etwas gemacht!", und dieses Gemachte bleibt äusserlich; es packt uns nicht; wo doch Dürrenmatt statuierte: "Ich beschreibe Menschen, nicht Marionetten".
Vielleicht trägt zum Eindruck von distanzierter Verfremdung auch bei, dass Katharina Rupp, die Regisseurin, die Exposition zusammenrafft. Was bei Dürrenmatt "der erste, der zweite, der dritte, der vierte Bürger" vorbringen müssen, um den Zuschauer über die desolate Lage des Städtchens zu informieren, trägt in Biel-Solothurn ein Conférencier mit Mikrofon vor. Lou Elias Bihler macht das mit Schmiss und Exaktheit - aber was soll die Musik? Die kommt aus Italien, aus der Zeit der Siebzigerjahre (Fellini, Lamborghini, Gina Lollobrigida), und dabei sind wir doch in Güllen, und Güllen, das ist unsere Aggloschweiz. Das passt doch nicht zusammen!
Nun ist Claire Zachanassian eingetroffen (Barbara Grimm), "eine Dame von Welt, mit einer seltsamen Grazie", schreibt Friedrich Dürrenmatt. Aber bitte, wo ist "das Gefolge", das sonst die Bühne füllt und die Erscheinung der Milliardärin durch "die Gruppe" zum grossen theatralischen Auftritt macht? Noch immer klebt die Aufführung am Boden und zeigt eine einsame Claire auf grauer, beinah leerer Bühne. Offenbar, denkt man, hat Theater Orchester Biel Solothurn nicht genügend Mittel, um mit der nötigen Opulenz, um nicht zu sagen: Wucht, den berühmten Schauspielklassiker auszustatten. In den beengten Verhältnissen am Jurasüdfuss ertönt der Chor ab Tonträger aus der Kulisse, während er in Sankt Gallen, vor exakt einem Jahr, in Kurt Josef Schildknechts Inszenierung auf die Bühne kam und den Raum füllte.
Und jetzt wieder Musik. Das Streichquartett, das Brahms angeblich in Güllen komponiert haben soll. Man horcht auf: "Hat es wirklich so geklungen? Grau und unbedeutend wie das Städtchen. Interessant." Dann die Tischrede im Goldenen Apostel: "Gnädige Frau, meine lieben Güllener." Fanfarenstösse. Die herkömmlichen Intervalle. Aber abgewürgt mitten im Tonbogen. Da hat jemand den Mut, Klänge als exakt, wenn auch schräg zugeschnittene Elemente zur Handlungsgestaltung einzusetzen; nicht bloss als Teppich zur Herstellung von Ambiance.
Und dann, mit einem genialen Dreh, der alle Gegebenheiten auf eine höhere Ebene katapultiert, wirft Katharina Rupp alle ins ungeschriebene Herzstück des Dramas hinein, und von da an lässt die Aufführung keinen mehr los, sondern reisst Zuschauer und Spieler in unerbittlicher Steigerung vorwärts bis zum Ende. "Claire Zachanassian: 'Bürgermeister.' Von hinten aus den Reihen der schweigenden Männer kommt langsam der Bürgermeister nach vorne. Claire Zachanassian: 'Der Check.' Sie überreicht ihm ein Papier und geht mit dem Butler hinaus."
Der Umschlagspunkt befindet sich, in Rupps Inszenierung, in der Peterschen Scheune. Claire Zachanassian: "Ich will mit Alfred unsere alten Liebesorte besuchen." Und an dieser Stelle weist die Regisseurin durch einen hinzugeschriebenen Satz auf das Instrument der Verwandlung: "Da steht noch die alte Wurlitzer-Orgel." Auwei, denkt man, und erinnert sich an den verstorbenen Kollegen vom "Bund", Martin Etter, der solche "Einfälle" mit dem Wort "Mätzchen" aufzuspiessen pflegte.
Ill geht nach hinten und drückt auf die Knöpfe. Der Schallplattenautomat setzt sich in Bewegung, und aus dem Lautsprecher erklingt Musik, "ihre" Musik, die sie damals immer und immer wieder hörten, als sie noch jung und leidenschaftlich einander verfallen waren, er sie "mein Wildkätzchen" nannte und sie ihn "mein schwarzer Panther". Es ist ein Stück aus der Hitparade der siebziger Jahre, und es entspricht nicht nur dem damaligen Traum von weiter Welt, sondern auch dem Horizont der Güllener Kleinstadtjugend, dem Horizont von Kläri Wäscher und Alfred Ill.
Heute aber stehen die beiden weit auseinander, nicht nur getrennt durch "fünfundvierzig Jahre", sondern auch durch einen Verrat: "Claire Zachanassian, damals Klara Wäscher, klagte Sie, Herr Ill, an, der Vater ihres Kindes zu sein. Sie bestritten damals die Vaterschaft, Herr Ill." In dem Moment, wo sie weit auseinanderstehen, so weit, wie es die Bühnenverhältnisse erlauben, sie am linken Portal, er am rechten, wird nun der Raum zwischen ihnen erfüllt von pulsierenden Bläserakkorden und damit von der Erinnerung ans verlorene Glück, das sich um alles in der Welt nicht mehr zurückkaufen lässt. Und damit erweist sich der erdrückende Reichtum der Milliardärin als substanzloses Surrogat, das nicht entschädigen kann für den Verlust des immateriellen Glücks jugendlich-reiner Liebe.
Das alles zeigt Katharina Rupp durch den Einsatz einer "Single" im wahrsten Wortsinn, will sagen: durch ein einziges szenisches Mittel, den Ton, und damit wird die Grösse dieser Inszenierung fassbar: Es ist die Kunst des Weglassens (gut 60 Prozent des Texts), es ist die Kunst, Zusammenhänge zu schaffen, es ist die Kunst der Steigerung.
Standen Claire und Alfred zuvor noch getrennt voneinander, sieht man sie nun in engster Körpernähe, in faszinierendem Gleichtakt Tango tanzen, und man merkt: Sie können es noch, sie sind immer noch aufeinander bezogen, atmen im gleichen Takt – doch da knacken die eingerosteten Gelenke, schmerzen die strapazierten Bänder, und das tanzende Paar muss einhalten: "Du bist fett geworden. Und grau und versoffen. Auch ich bin alt geworden." Was ich da zitiere, braucht die Rupp nicht aussprechen zu lassen. Sie findet immer wieder jenseits der Worte neue, zwingende Zeichen für eine alte, aber unverjährte Geschichte.
Barbara Grimm spielt die alte Dame, Mario Gremlich den Ill. Sie gestaltet das Porträt mit überlegener Diskretion und streicht (Kunst des Weglassens) das Groteske, Überladene der Figur weg (Dürrenmatt: "aufgedonnert, unmöglich"). Die Grimm spricht einfach ihren Text, klar, unbeirrbar, leise, und durch diese Geradlinigkeit vollzieht sich, was Dürrenmatt voraussagte: "Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe, der Hintergrund wird sich von selber einstellen." - Mario Gremlich dagegen durchläuft ein ganzes Schicksal: Vom unscheinbaren, angepassten Krämer zum gehetzten, dann verzweifelten und am Ende ergebenen Menschen, der mit einem Ausdruck stillen Erstaunens von der Kugel getroffen zu Boden fällt.
Mario Gremlich wächst mit zunehmender Intensität in seine Rolle, er nimmt uns in seinen Alfred Ill hinein, und wenn er – die Spannung ist kaum mehr zu ertragen – zur Einsicht kommt und ruft: "Ich bin verloren!", schliesst sich der Vorhang, wir erwachen aus der Benommenheit und stellen ernüchtert fest: "So steht's ja im Buch: 'Pause nach den zweiten Akt'." So frei mithin die Inszenierung mit dem Text umgeht, so genau bringt sie seinen Gehalt zur Darstellung. Sie minutiert die Spannungskurve so exakt, dass am Schluss des zweiten Akts Aufführung und geschriebenes Drama in eins fallen.
Katharina Rupps überlegenes Können zeigt sich auch an der Homogenität der Truppe, die in Wirklichkeit doch inhomogen ist: Da verknüpft die Regisseurin Statisten, Anfänger, Gäste und Ensemblemitglieder zu einer Gemeinschaft, die uns in all ihrer Gemeinheit zunehmend ans Herz wächst, und wir beginnen, im Wiedererkennen der Figuren jede einzelne Figur zu erkennen. Es hat jede ihr Profil, ihren Ausdruck, ihre Persönlichkeit.
Neben den scharfen Typen arbeitet Katharina Rupp am sonst gern vernachlässigten Part des Bürgermeisters ein fein gestaltetes Politikerporträt heraus und macht aus dem unbedeutenden Funktionsträger unter der Hand eine Hauptrolle. An der Gemeindeversammlung, wo es um eine einzige Frage geht: "Wer reinen Herzens die Gerechtigkeit verwirklichen will, erhebe die Hand", ist dem Bürgermeister die ganze Ambivalenz ins Gesicht geschrieben, die das Spiel der Politik seit jeher kennzeichnet.
Und da ist noch der Conférencier. Mit ihm hat das Stück begonnen, mit ihm hört es auf. Immer, wenn er auftrat, auch jetzt, erklang das italienische Schlagerzitat aus den siebziger Jahren, und jetzt, ganz am Schluss, erkennt man seine Berechtigung und seinen Sinn: Es stammt nicht nur aus der südlichen Welt, es steht auch für die südliche Welt. Denn am Ende der Aufführung hält (Zusatz Rupp) der Expresszug nach Italien in Güllen, um Claire Zachanassian und den toten Alfred Ill mitzunehmen: "Ich werde dich in deinem Sarg nach Capri bringen. Liess ein Mausoleum errichten im Park meines Palazzos. Von Zypressen umgeben. Mit Blick aufs Mittelmeer. Dort wirst du bleiben."
So sind am Ende alle Zeichen, auch die akustischen, aufeinander bezogen und bilden ein grosses, bezwingendes Ganzes. Die Regisseurin veränderte manches, doch baute sie das Stück nicht um. Sie dekonstruierte seine Handlung nicht. Sie liess die Schauspieler ihre Figuren finden und machte sie nicht zu Performern ihrer selbst. Wie versonnen ging Katharina Rupp durch den Text, rückte da eine Tischdecke zurecht, zündete dort eine Stehlampe an und entfernte beim Rauchertisch den sperrigen Fauteuil. Das genügte. Und wir merkten: Sie ist hier zuhause. Grosser Applaus. Bravorufe.