Was ihr wollt. William Shakespeare.

Komödie.                  

Günter Wissemann, Carlo Coene. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 11. September 1984.

 

 

Shakespeare im Strassenanzug

 

Carlo Coene, der die Eröffnungspremiere des Städtebundtheaters ausstattete, liess im Kostüm der zwanziger Jahre spielen, obwohl das Stück um 1600 geschrieben worden ist. Shakespeare im Strassenanzug – das ergab eine interessante, phantasievolle Aufführung von höchstem poetischem Reiz.

 

 

Diesmal betrat ich das Theater mit Unmut. Shakespeare stand auf dem Spielplan, und das fand ich fad. "Auch heute noch", schreibt Friedrich Torberg, "gehört es zum ehernen Brauchtum sämtlicher Provinzbühnen, die Saison mit einem schweren Klassiker zu eröffnen." Mit "Was ihr wollt" schien das Städtebundtheater diesen Satz bestätigen zu wollen.

 

Ein weiterer Umstand trug zu meinem Missmut bei. Goethe hat vor 170 Jahren den Titel geprägt: "Shakespeare und kein Ende". Und er hielt fest: "Es ist über Shakespeare schon so viel gesagt, dass es scheinen möchte, als wäre nichts mehr zu sagen übrig." Das war 1803.

 

Nun wird das Abgedroschene einen wahrhaften Liebhaber natürlich nicht vom Theater fernhalten – nur: Ich bin kein wahrhafter Shakespeare-Liebhaber. Es geht mir mit dem grossen Engländer so, wie dem Berliner Kritiker Alfred Kerr, der 1909 notierte: "Niemand behauptet, dass Shakespeare ein Trottel war. Eher schon, dass Trottel diejenigen sind, die zurückgebliebene Geniewerke als Entwicklungsgipfel einbläuen."

 

Vielleicht wird man jetzt meine Gefühle verstehen. Ich betrat jedenfalls das Stadttheater mit der Erinnerung an qualvoll langweilige, phantasielose Aufführungen, die bloss deshalb niemand zu verdammen wagte, weil hehre Klassiker die Vorlage dazu abgegeben hatten.

 

Doch kaum lag der Zuschauerraum im Dunkeln, war ich von dieser Aufführung auch schon gepackt. Im Finstern setzte Musik ein, Streicher und Harfe. Sie entwickelte sich, leise, leise, und plötzlich fiel mir auf, wie lange diese Musik dem Zuschauer zugemutet wurde. So lange nämlich, bis das letzte Zischeln und Tuscheln in den Rängen erstorben war; bis der Hinterste und Letzte innerlich für die Aufführung bereit war.

 

Und dann ging aus dieser erwartungsvollen Stille heraus der Vorhang auf, sachte, ganz sachte, wie ihn noch kein Regisseur im Städtebundtheater hat aufziehen lassen. Und da spürte man: Hinter dieser Inszenierung steckt der Wille eines hochsensiblen, kunstsinnigen Mannes.

 

An der Szene, die der Vorhang freigab, konnte sich das Auge nicht sattsehen. Nachtbläue von duftigster Zartheit, die sich in unendlicher Ferne verlor. Vorne aber rauschten die Wellen des Meeres mit silbernen Kämmen breit und schläfrig ans Ufer.

 

In der Mitte der Bühne: die schwarze Silhouette eines Mannes. Er trägt eine reglose Gestalt in seinen Armen. Ans Dunkel gewöhnt, erkennen wir, dass es sich um einen Fischer mit einem erschöpften Mädchen handelt.

 

Nun kommt sie zu sich: "Welch Land ist dies?" – "Illyrien, Fräulein." Es sind Renate Müller und Raoul Serda, die diesen Dialog sprechen, und wieder zeigt sich: An dieser Inszenierung ist gefeilt worden. Wohlabgemessen werden die Verse gesprochen. Es stimmt jede Pause, jede Zäsur. Und gleichzeitig klingt alles leicht, beiläufig, unpathetisch. So muss man es sagen, und so ist es schön.

 

Günter Wissemann, der Regisseur, hat die beiden ersten Szenen vertauscht. Nach der Viola-Szene erfolgt erst Orsinos Auftritt. Der Fürst verzehrt sich in unglücklicher Liebe, und nichts an seinem Reichtum vermag ihn noch zu freuen. Alf Beinell spricht den berühmten Monolog "Wenn Musik der Liebe Nahrung ist, spielt weiter!" Aber die Worte wirken in seinem Mund wie andressiert, weil Beinell, der Schauspieler, das Herz nicht bei der Sache hat. Auch bei Verena Leimbacher bleibt die Darstellung äusserlich und hohl. Zwar karikiert sie nicht wie Beinell, aber sie ist das junge Mädchen nicht, das sie darstellen sollte. Frau Leimbacher spielt mit grosser, reifer Könnerschaft. Aber gerade die Reife ihrer Jahre passt nicht zur Unreife der Figur.

 

Dafür stimmt die Melancholie der komischen Szenen wieder aufs Akkurateste. Wenn Hans Schatzmann als Narr an seiner Harmonika zieht und die Moll-Tasten drückt, dann greift einem die Trauer dieses billigen Zirkusinstruments ans Herz.

 

Die Entdeckung des Abends aber ist Herbert Boss als Malvolio. Dieser Schauspieler, der bis jetzt zu den Unauffälligen zählte, hat plötzlich eine solche Fülle komischer Mittel zur Verfügung, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Wie subtil das alles ist! Und wie der Körper mitmacht, und der Hals, und das Gesicht, und der Mund – Herbert Boss ist die Entdeckung des Abends.

 

Übers Ganze betrachtet ist "Was ihr wollt" eine aussergewöhnliche Aufführung. So locker, so gescheit, so inspiriert ist am Städtebundtheater noch nie ein altes Stück inszeniert worden. Wenigstens nicht in den letzten fünfzehn Jahren. Und was mich angeht – ich bin daran, meine Meinung über Shakespeare zu revidieren...

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