The Rake's Progress. Igor Strawinsky.
Oper.
François Rochaix. Grand Théâtre de Genève.
Radio DRS-2, Reflexe, 7. November 1985.
Strawinsky, man weiss es, Strawinsky hat Zeit seines Lebens den Kompositionsstil verändert und neue musikalische Formen ausprobiert. Da war, am Anfang, der Barbarismus von "Le Sacre du printemps", der dem hergebrachten Schönheitsideal ins Gesicht schlug.
(Musik)
Und mit siebzig begann sich der Komponist auf serielle Techniken einzulassen, wie hier, 1959, mit "Mouvements".
(Musik)
Dazwischen aber komponierte er Töne wie die:
(Musik)
Reine Arien, nach hergebrachten Mustern, mit hergebrachten Techniken, in der hergebrachten Tonalität. Wie ist das zu erklären? Man hat diesem Kompositionsstil, wie er in "The Rake's Progress" Triumphe feiert, das Etikett "Neoklassizismus" verpasst. Aber mit Phänomenologie, mit einer Beschreibung des Sachverhalts, ist das Ding nicht erklärt. Die Frage ist immer noch: Wozu dieser Rückgriff, um nicht zu sagen: Rückschritt in die Tradition? Strawinsky hat sich's auch überlegt.
(Wort)
Und er kam zu Antwort:
(Wort)
Und im gleichen Atemzug gestand er auch:
(Wort)
So schrieb Strawinsky in "The Rake's Progress" eine Musik, die nicht aus unserer Zeit kommt, sondern aus dem 18. Jahrhundert. Und um sie zu komponieren, hat er drei Jahre aufgewandt. Dann kam's 1951 zur Uraufführung. Mit einer Handlung, die ebenso rätselhaft unmodern ist wie die Musik. Es geht, mit einem Wort, ums Motiv vom verlorenen Sohn. Der junge, nicht eben charakterfeste Tom Rakewell erliegt den Verführungen der City, imitiert den liederlichen Lebenswandel der Gentlemen und büsst damit am Schluss mit Wahnsinn und Tod. Merkwürdig. Was soll uns heute diese Geschichte?
Was soll uns überhaupt die Figur des "Rake", zu deutsch: des Wüstlings, des Libertins? François Rochaix, der Strawinskys Oper jetzt in Genf inszeniert hat, windet sich sichtlich, wenn man ihn fragt, was heutzutage denn ein Wüstling sei.
(Wort)
Und die unwahrscheinliche Figur der Ann Truelove, des ländlichen Gänseblümchens, das Tom verschmäht hat, kann der Regisseur nur mit ganz allgemeinen Wendungen rechtfertigen:
(Wort)
Ja, und gleichzeitig trifft dieser Satz auf jede Oper zu, in der ein liebender Mensch vorkommt. Mit andern Worten: "The Rake's Progress" ist von der Musik und der Handlung her so sehr im 18. Jahrhundert verhaftet, dass sich die Oper unserer Einfühlung und unserem Verständnis versagt. Es ist eine fremde Welt, die Strawinsky aufstellt. Doch gerade in dieser Fremdheit, so vermute ich, liegt auch die Kunstleistung: die Leistung, eine Geschichte so zu erzählen, dass der Zuschauer in den Zeiten irre wird und eine Vergangenheit lebendig zu werden glaubt, von der uns in Wirklichkeit zwei Jahrhunderte trennen. "Aura", so nannte Walter Benjamin das Phänomen. "Die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag."
Diese Dialektik, die dem Werk wesensmässig ist, diese Dialektik nun hat man in Genf nicht respektiert. Man hat, wie immer mit ganz gepflegten Mitteln, Oper gemacht. In vertrauter Manier bewegen sich die Sänger auf der Bühne und schaffen so eine Übereinstimmung mit der Operntradition, die über alles Rätselhafte hinwegtäuscht. Mithin: eine angenehme Inszenierung, aber kein Ereignis.