Peter Pan. James Matthew Barrie.
Schauspiel.
Michael Lippold, The bianca Story, Iris Kraft. Konzert Theater Bern.
Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt, 5. Dezember 2015.
Rezept für eine Familien- und Kinderproduktion im Stadttheater. Erstens. Man nehme ein Stück, das Eltern und Grosseltern schon kennen. Sie wissen dann, worauf sie sich einlassen, und freuen sich zum voraus, mit den Kleinen zusammen Hook, Wendy und Peter Pan in Nimmerland (in Bern: "Neverländ") zu begegnen. Die Kinder wiederum, stellte Charles Lamb fest, "lieben es, Geschichten von ihren Eltern zu hören, als sie Kinder waren." Die Gefahr für die Theatermacher ist dabei: falsche Ambition. Wenn sie sich in Pose werfen: "Damals, liebe Eltern, hat man euch das viel zu bieder gezeigt. Heute macht man es soo!" - dann kann es passieren, dass die Bühne zu trendig wird und damit das Bedürfnis der Eltern bedient, ewig jung zu bleiben, statt den Wunsch der Kinder zu erfüllen, eine farbige, spannende und fassliche Geschichte erzählt zu bekommen; diesmal die Geschichte von einem Jungen, der nicht erwachsen werden wollte.
Zweitens. Man nehme eine Band, bei deren Erwähnung es die Erwachsenen schon haben klingeln hören: "The bianca Story" aus Basel (Coming Home, 2012; DIGGER 2013). Diese Band singt jetzt unter anderem das "Mutterlied": "Oh mother, without a child / you clown have no nose / a fairy without her wings / a laughter without a joke / I wish – I knew – that I – was born / I wish I had a microphone ..." Solange der Fokus des Scheinwerferlichts auf der Band liegt, besteht indes die Gefahr, dass die Schauspieler auf der Bühne und die Kinder im Zuschauerraum auf Standby gehen. Zumal die Darsteller weder singen noch tanzen. Während somit die Handlung bei den musikalischen Einlagen an der Stelle tritt, kommen die Zuschauer in die Musik, statt ins Stück; und die Musik ist nicht mehr Mitspielerin (wie in den beiden ersten Schauspielproduktionen dieser Spielzeit, "Hiob" und "Erdbeben"), sondern Hauptperson, um nicht zu sagen: Diva. Durch die Musik aber verlangsamt sich die Aufführung. Heisst es im Programmheft noch: "Dauer ca. 2 Stunden", werden am Premierenaushang bereits 2 Stunden 10 angekündigt, und am Ende sind es 2 Stunden 25. Für eine solche Spieldauer aber gibt die Handlung nicht genug her. Darum müssen sich die Darsteller noch kurz vor Schluss minutenlang Kissen zuwerfen, damit es während der Musik nach "Action" aussieht.
Drittens. Man nehme Microports, damit sich die Schauspieler gegenüber dem elektronisch verstärkten Volumen der Band durchsetzen können. Die Gefahr ist, dass die Darsteller, gerade weil sie sich aufs Lippenmikrofon verlassen, so undeutlich reden, dass man sie, trotz ausreichender Lautstärke, stellenweise nicht versteht.
Viertens: Man streiche die Handlung so zusammen, dass komplexe Zusammenhänge und ausführliche Dialogstellen wegfallen. Man gewinnt dadurch eine Unbestimmtheit, auf die das Publikum mit einem ahnungsvollen "Aha!" reagiert. Die Gefahr ist, dass Menschen, die die Geschichte nicht kennen, ins Schwimmen geraten: Worum geht es eigentlich? Was wird erzählt? Schwer zu sagen. Das Konturlose kann man nicht fassen. Man kann es nur in träumerisch-fluktuierendem Modus vor sich ablaufen lassen.
Fünftens. Man nehme eine Ausstatterin (Iris Kraft), die herrliche Räume und wundervolle Verwandlungen zustandebringt. Ein gutes Bühnenbild ist mehr als die halbe Miete. Wie die enge Krankenstube in nichts zerstiebt, während Peter Pan und Wendy davonfliegen und in einer wirbelnden Wolkenspirale das Glück der Schwerelosigkeit erfahren, breitet sich im Publikum helles Entzücken aus. Auch die weiteren Bildwechsel (Zauberinsel, Seeräuberschiff) sind wirkungsvoll und schaffen schöne, evokative Räume. Die Gefahr ist, dass der Regisseur sie nicht zu bespielen weiss. Dabei hat schon der alte Schopenhauer verraten, wie man vorgehen müsse. Die erste Regel sei, "dass man etwas zu sagen habe: o, damit kommt man weit!"
Sechstens. Man nehme einen jungen Regisseur (Michael Lippold), aufgrund der Annahme, dass junge Leute Kinder besser verstehen als alte. Sie wissen, denkt man, was auf den Schulhöfen Trend ist und welche Laute und Gebärden bei den Kids ankommen. Die Gefahr ist, dass das Metier hinter den Ambitionen zurückbleibt. Darum weist man gern das Weihnachtsmärchen Anfängern als Spielplatz zu, obwohl auch für dieses Genre der Satz George Bernard Shaws gilt, dass es zwanzig Jahre Erfahrung braucht, bis man das Theaterhandwerk beherrscht. Kein Wunder, ist mir deshalb "Hänsel und Gretel" aus dem Jahr 1987 als unauslöschlicher Höhepunkt im Gedächtnis geblieben. Herausgebracht wurde die Oper von zwei uralten bulgarischen Künstlern, Mihail Hadjimichev und Anna Ivanova Hadjimicheva, seiner Frau, am Städtebundtheater Biel-Solothurn. Sie wackelte schon mit dem Kopfe, und er rauchte immer noch eine Zigarette nach der andern. In der Aufführung aber fand man Zartheit, Liebe, Können, Witz – und eine Theaterpranke, die mit dem Stoff gleichzeitig deutlich und subtil umging. Diesen Vorsprung eines langen Künstlerlebens kann ein junger Mensch nicht einholen. Die Hadjimichews aber starben kurz darauf. "Hänsel und Gretel" blieb ihr Vermächtnis im Westen.
Siebtens. Man nehme Schauspieler, die ihre Rollen (oder das, was die "Fassung" davon übrigliess) engagiert und glaubwürdig darbieten können. Die Gefahr ist, dass die Beschränktheit des Ensembles und die Beschränktheit der Darsteller karikierendes und überladenes Spiel hervorrufen, das die Talentmängel verdecken soll. In Bern ist das nicht der Fall. Die Hauptdarsteller sind ihren Rollen gewachsen. Deleila Piasko gibt Wendy mit Ernst, Kraft und Wahrheit, und streift weder ans Lächerliche noch ans Hohle. Und Peter Pan von Sebastian Schneider entpuppt sich als Glücksfall der Besetzung: Intensives, aufgefächertes Spiel, immer in der Rolle drin, selbst beim Applaus, dazu anmutig und bewegend in Fröhlichkeit und Trauer. Nach der Pause erscheint dann noch die faszinierende Gestalt des Bösen, Captain Hook. Jürg Wisbach verleiht ihm jenen Schuss Vulgarität, der die Figur zugleich bedrohlich und beschränkt macht. Eine kraftvolle Zeichnung, die über die Charge hinausgeht.
All diese Zutaten ergeben eine Familien- und Kinderproduktion, die in Bern an der Premiere stürmischen Jubel auslöst. Vegan orientierte Eltern aber werden leer schlucken und eingestehen müssen, dass den Kindern ein Big Mac besser schmeckt als ein Falafel-Bratling. Das ist die Realität - in der Küche wie im Theater.