Jeffrey Tate (Porträt).
Sender Freies Berlin, 18. Juni 1986.
Jeffrey Tate hat ein schönes, klares Gesicht. Darin sind jünglingshafte Verspieltheit und skeptischer Ernst merkwürdig ineinander vermischt. Man sieht diesen schönen Zügen nicht an, was für ein grotesk verwachsener Körper sich darunter befindet. Jeffrey Tate ist ein Krüppel mit verbuckeltem Brustkasten, überlangen, affenartigen Armen, verkürzter Wirbelsäule, schief gewachsenen Hüften, ungleich langen Beinen. – Aber gerade dieser verwachsene Körper ist vielleicht schuld, dass sich Jeffrey Tate in seiner Freizeit mit englischer Philosophie beschäftigt, dort, wo sie am klarsten und geradesten ist.
(Wort)
Jeffrey Tate. Sein verwachsener Körper ist vielleicht auch daran schuld, dass er sich als Dirigent durch eine besondere Fähigkeit auszeichnet, komplizierte Partituren transparent zu machen. Wie etwa Alban Bergs "Lulu" und Giuseppe Verdis "Falstaff" diese Spielzeit in Genf. Da legte er die einzelnen Fäden der Komposition bloss und schuf eine kristalline Klarheit, die die Kritik an Mozart erinnerte.
(Wort)
Vielleicht ist Jeffrey Tates verwachsener Körper auch schuld an seiner Berufswahl. Nach dem Abitur jedenfalls studierte er in Cambridge. Medizin. Machte den Abschluss. Arbeitete zwei Jahre lang als Arzt im Spital. Und versuchte dann sein Glück in der Musik. Ein Jahr lang assistierte er in Covent Garden, dann sollte sich's entscheiden, ob er ins Spital zurückkehren und sich spezialisieren solle (auf Augenheilkunde), oder ob er im Reich der Töne Fuss fassen könne. Er konnte, und wie. Eine fabelhafte musikalische Karriere begann schon nach kürzester Zeit, die ihn immer wieder nach New York an die Met führte, aber auch an die Opernhäuser von Hamburg, Paris, London. Letztes Jahr wurde "Il Ritorno d'Ulisse in Patria" zu seinem ersten grossen Salzburger Erfolg, und nächstes Jahr wird er an der Salzach "Die Entführung aus dem Serail" einstudieren. Das "English Chamber Orchestra" ernannte ihn vor einem Jahr zu seinem "principal conductor", dem ersten in der Geschichte des Orchesters, und von diesem Herbst an wird er auch noch "principal conductor" am Covent Garden, ein Posten, der eigens für ihn geschaffen wurde. Jeffrey Tate aber hat nicht vergebens seine englischen Skeptiker studiert.
(Wort)
Jeffrey Tate. Jetzt, wo ihn Angebote aus aller Welt erreichen, geht er innerlich auf Distanz.
(Wort)
Konzentration tut not. Konzentration auf das, was ihm Freude macht. Dazu gehört für Jeffrey Tate auch die Genfer Oper.
(Wort)
Im April nächsten Jahres wird Jeffrey Tate in Genf die Uraufführung von Rolf Liebermanns neuer Oper dirigieren, "Der Wald" nach Ostrowsky. Und er wird die Partitur, wie jetzt bei "Falstaff", mit grösster Redlichkeit nachvollziehen.
(Wort)
Jeffrey Tate. Er hat einen verwachsenen Körper, aber einen klaren, geraden Verstand. In seinem Gesicht mischen sich jünglingshafte Verspieltheit und skeptischer Ernst. Und was sein Handwerk angeht, so pflegt er darüber nüchterne, englische Auffassungen.
(Wort)