Eugen Onegin. Peter I. Tschaikowsky.

Oper.

Hartmut Haenchen, Johannes Schaaf. Grand Théâtre de Genève.

Radio DRS-2, Reflexe, und Sender Freies Berlin, 12. September 1986.

 

 

"Lyrische Szenen in drei Akten", das ist der Untertitel von "Eugen Onegin". Und wie diese lyrischen Szenen koloriert sind, unter welchem Vorzeichen sie stehen, das sagen die ersten drei Takte der Oper. Eine chromatisch abwärtsgleitende Streichermelodie in g-Moll wird aufgefangen von zwei kadenzierenden Bläserakkorden.

 

(Musik)

 

"Eugen Onegin" steht also im Zeichen von Niedergleiten und Fall. Niedergleiten und Fall – das ist auch das Schicksal der Figuren. Lanski verliert sein Leben. Olga verliert ihren Verlobten. Larina verliert ihre Tochter an die Stadt. Tatjana verliert ihre Liebe. Sie sind alle Verlierer, in dieser Oper. Und zuunterst, in der Tiefe, da liegt die Titelfigur, da liegt Eugen Onegin.

 

(Wort)

 

So sieht das der Regisseur der Genfer Inszenierung, Johannes Schaaf. Bis zur Pause bewegen sich die Figuren auf einem gewölbten Boden, der seine Form von der Kugel hat. Damit liegt nun das Thema der Oper, der unaufhaltsame Fall, ständig vor Augen. Denn auf einer halbkugelförmigen Bühne gibt es nur einen einzigen Punkt, auf dem man nicht von der Tiefe angesogen wird: den Zenith. Ausserhalb dieses Punktes aber ist alles Gelände schief und abschüssig.

 

Damit symbolisiert das Bühnenbild auch, wie Tschaikowsky in "Eugen Onegin" das Leben sieht. Es kann wohl einer versuchen, sich oben zu halten, auf dem idealen Punkt, dem Zenith. Aber dann darf er sich nicht bewegen. Wer sich aber nicht bewegt, der lebt nicht. Ungefährdet sind also nur die Toten. Die Lebenden aber, die sich bewegen, die führt's hinunter in die Tiefe, sagt Tschaikowsky. Denn Leben heisst Fallen.

 

(Musik)

 

Bei dieser Philosophie liegt die Gefahr nahe, dass das Theater tränenseliger Sentimentalität erliegt. Bekannt ist der Ausspruch jenes russischen Regisseurs, der sagte: "Eugen Onegin ist wie Tschechow. Und Tschechow ist traurig."

 

Johannes Schaaf aber, der Regisseur von Genf, hat sich aller Sentimentalität entwunden. Seine Inszenierung geht auf Verständlichkeit aus, nicht auf Gefühlsrausch. Sie analysiert den Gang der Handlung und zerlegt ihn in eine Sukzession von Bildern. Und damit nimmt sie die Oper ernst, bis auf den Punkt, bis auf den Untertitel. Denn da heisst es ja: "Lyrische Szenen in drei Akten". Die Szenen aber, die Schaaf entwickelt, erfüllen dreierlei. Erstens: Sie sind schön. Zweitens: Sie sind konzis. Und drittens: Sie stimmen von innen her, sie sind evident.

 

(Musik)

 

Die Aufführung steht unter der musikalischen Leitung von Hartmut Haenchen, einem jungen Dirigenten aus der DDR, der seit diesem Jahr die Amsterdamer Oper leitet. Seine Konzeption ist bemerkenswert durch ihre Klarheit, durch ihre Transparenz, durch ihren Verzicht auf Pomp und Effekt. Da vernimmt man plötzlich, was für gute Musik Tschaikowsky eigentlich geschrieben hat; und während Hartmut Haenchen das Orchestre de la Suisse Romande straff und federnd dirigiert, geht man bei sich über die Bücher und sagt sich im stillen: Von dieser Aufführung kannst du was lernen...

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