Die Unbekannte aus der Seine. Ödön von Horváth.
Schauspiel.
Gastspiel des Stadttheaters Luzern im Stadttheater Biel.
Bieler Tagblatt, 13. Januar 1972.
Einmal wird sie geschrieben werden müssen, jene grundsätzliche Betrachtung über die Theaterkritik, die ihre Möglichkeiten erläutert, ihre Aufgabe umreisst, ihren Nutzen in Frage stellt und ihre Grenzen aufzeigt, die Grenzen nach oben und nach unten. Oben: dort, wo die Kritikersprache versagt, weil sie den nachhaltigen, erschütternden Eindruck einer starken, lebendigen, zutiefst ergreifenden Inszenierung nicht mehr zu fassen vermag, es sein denn, sie werde die Sprache eines Dichters. Unten: dort, wo die Sicherungen durchgebrannt sind, wo eine jämmerliche, unverständliche und unverständige Aufführung jeder ehrlich bemühten Verwirklichung der Vorlage Hohn spricht, wo die Empörung des Kritikers nicht mehr zu dämpfen ist. Unten, dort, wo einem das Weinen nähersteht als das Lachen.
Zurückhaltung, Präzision und Sorgfalt sind die Kennzeichen einer ernstzunehmenden Kritik, die ihr Urteil belegt oder belegen kann. Solch eine zurückhaltende Kritik zu schreiben, hat die Luzerner Inszenierung von Horváths "Unbekannter aus der Seine" verunmöglicht. Jede Minute, die die Aufführung dauerte, wurde ein Schlag ins Gesicht, nicht ins Gesicht des Publikums, denn das war weitgehend ahnungslos und nahm dass, was geboten wurde, für bare Münze; aber das Erlebnis, nach der Aufführung nochmals den Text durchzulesen und dabei das Buch ständig auf die Knie sinken zu lassen, ratlos, mit rotem Kopf ständig aufblicken zu müssen, nicht mehr weiterlesen zu können, mit dem Gedanken: Das also, was zu sehen war, wollte eine Horváth-Aufführung sein, die Präsentation jenes grossen deutschsprachigen Dichters!
Das Nachlesen wurde zur Qual. Bilder, die im Text so klar, so scharf und stark erscheinen, sie alle hatte die Regie weggelassen, Gesten, die so treffend schaubar machten, was in den Personen vorging, Situationen, Pausen, die im Text so unerträglich durchsichtig waren, sie alle hatte die Regie verschmiert. Dafür hatte sie, Seite für Seite, unangebrachtes, abgedroschenes Theatergetue dazugestellt, nicht nur Tendenzen dazugedichtet, nein, ganze, lebendige Personen umgestülpt, "bearbeitet", Wesenszüge unterschlagen, Dialoge dazuerfunden. Aufgeblasene Symbolik, billige Effekte verpufften wie feuchte Knallfrösche, hinterliessen Rauch und Gestank, überdeckten Horváths schreckliche Klarheit. Auch das führte an eine Grenze der Kritik: Man müsste ein Buch schreiben, wollte man Punkt für Punkt öffentlich vorrechnen, wo überall gefälscht worden ist.
War diese Kritik zu unversöhnlich? Es gibt Momente, da steht einem die Wahrheit des Dichters näher als die Gunst des Publikums.