Dietrich Kittner.
Kabarett.
Gastspiel im Théâtre de Poche, Biel.
Bieler Tagblatt, 29. September 1971
Vielfältige Ankündigungen ("Kittner kommt") machten auf den "einsamen Spitzenmann des politischen Kabaretts" aufmerksam, lange bevor er nach Biel kam, stimmten zunächst misstrauisch, dann erweckten sie Neugierde. Da stehen verdächtig einstimmige Lobeshymnen von Zeitungen aller Schattierungen ebenso verdächtig einstimmigen Bannflüchen empörter Zuschauer gegenüber, die Kittner durchwegs als "Dreckfink" und "alte Sau" anreden. Kittner ist offenbar jemand, bei dem sich die Meinungen teilen, jemand, der zur Entscheidung zwingt, jemand, bei dem der Vers "Die Schlechten fürchten deine Klaue, die Guten freuen sich deiner Grazie" zutrifft. Ein ausserordentlich befähigter Kabarettist also.
Ein Phänomen kann im Zusammenhang mit Kittner beobachtet werden: Er hinterlässt Sprachlosigkeit; das zeigt sich ebenso in den ungelenken Schimpfwörtern der Empörten wie in den saloppen Ausdrücken der Journalisten; es ist beschwerlich, präzis über Kittner zu reden, denn er ist beweglich und klug. Was er sagt, ist so durchdacht und kompakt, dass seine Person in den Hintergrund tritt, es geht ja nicht um ihn, es geht um uns, und so wird sein Kabarett zur Predigt, wo wir bearbeitet und geknetet, wo wir geschüttelt und nachher auf einen neuen Grund gestellt werden. Deshalb hat man Mühe, über Kittner zu reden, weil er gar nicht von sich selbst spricht, sondern ganz private Betroffenheit in jedem einzelnen auslöst.
Für diejenigen, die nicht dabei waren, mag es unglaublich klingen, aber sein Kabarett ist zu allem noch vergnüglich und lustig wie kein anderes, es gibt keine toten Stellen, Sätze, die ebensogut weggelassen werden könnten, alles ist hier ausgefeilt und in einem raffinierten Zusammenhang, man denkt an einen guten Schauspieler, der seinen Text beherrscht, aber nein, Kittner geht aufs Publikum ein, er ist hellwach und reagiert auf jedes Hüsteln im Saal, er nimmt es zu sich auf die Bühne und deutet es blitzschnell, er baut es in seinen Dialog mit den Zuschauern ein.
Bei aller Lebendigkeit und Munterkeit gelingt es Kittner am Ende des Programms, das Publikum still werden zu lassen, das befreiende Lachen, alle Ausflüchte zu nehmen und einen festzuhalten, dann nämlich, wenn es für die Zuschauer darum geht, Stellung zu beziehen. Da folgt ein Moment, wo man in sich ein Versprechen abgibt; und als er ganz am Schluss, als Zugabe, Tucholskys Lied von der "Bürgerlichen Wohltätigkeit" singt und sich damit selbst in die Tradition der ganz grossen deutschen Kabarettisten stellt, spürt man, wie diese Tradition hält, wie sie ihn und uns als ein unsichtbares Band der Menschlichkeit verbindet.
Man verlässt das Theater anders, als man es betreten hatte, hellhöriger, aufmerksamer und nachdenklicher; darin liegt Kittners grosse Leistung, dass er einen mit bedingungsloser Ehrlichkeit überzeugt, sich die Dinge noch einmal zu überlegen. Kittner muss jedem Zeitgenossen ans Herz gelegt werden.