Don Juan. Molière.
Komödie.
Alex Freihart, Karl Weingärtner. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 16. Mai 1978.
Reife Regieleistung eines Molière-Spezialisten
"Man spiele den Vordergrund richtig, den ich gebe, der Hintergrund wird sich von selber einstellen."
Friedrich Dürrenmatt
Der zweite Akt. "Die Szene spielt sich auf dem Lande ab, am Meeresstrand, nicht weit von der Stadt." Diese Bühnenanweisung setzt Karl Weingärtner, ein Meister der Andeutung, auf knappste Art fürs Auge um. Schräg über den Schauplatz ist ein hellbraunes Fischernetz zum Trocknen aufgehängt. Das ist alles, was an Requisiten vorkommt. Und es ist alles, was nötig ist. Denn der Zuschauer sieht das Netz und hört gleichzeitig mit seinem inneren Ohr die Wellen rauschen und den Wind blasen. Mit andern Worten: Das Bühnenbild schafft Raum für die Phantasie. Mehr noch: Es schafft Raum fürs Spiel der Darsteller. Und dieses Spiel verdient volle Aufmerksamkeit. Ein Bauernmädchen, Charlotte, erfährt von seinem Verlobten, wie ein feiner, nobler Herr aus dem Meer gerettet worden ist. Weit auf sperrt Eleonore Bürchers Charlotte ihre Augen, und man spürt: so etwas Abenteuerliches hat sich in Charlottes kleiner Welt noch nie ereignet. Sie brennt vor Begierde, den grossen Mann selber zu sehen, und sei es auch nur von weitem.
Doch in diesen Moment ereignet sich ein weiteres Wunder. Der Gerettete kommt mit seinem Diener zu ihr her geschlendert. Scheu, doch gleichzeitig voller Neugier, versteckt sich Charlotte hinter dem Fischernetz. All ihre Wünsche scheinen in Erfüllung zu gehen. Der feine Herr steht da, zum Greifen nah.
Nur undeutlich sieht das Mädchen Don Juans Gestalt durch die Maschen schimmern, aber es hört seine Stimme, und das genügt seiner Einbildungskraft. Und wie Don Juan es entdeckt und zu sich lockt, überfluten es seine Träume von der grossen Welt. Es steht neben dem adeligen Mann, aber es schaut an ihm vorbei, überwältigt durch die Nähe des Idols.
Die Runzeln im abgelebten Gesicht des Verführers bemerkt es nicht. Es ist wie geblendet von den Lobsprüchen, mit denen Don Juan seine Schönheit preist. Und er sieht seinerseits nicht genau, wer da vor ihm steht. Die abgearbeiteten Hände der Bauernmagd sind für ihn "die schönsten Hände der Welt; erlauben Sie, dass ich sie küsse".
Die Inszenierung zeigt somit: zwei Menschen, gefangen in ihren eigenen Wunschträumen. Und sie macht deutlich, warum und wie Don Juans Verführungskünste wirken.
Diese kurze Beschreibung belegt, mit welch feinem psychologischem Gespür Alex Freihart an die Regie herangegangen ist. Wie genau er das Stück gelesen hat, um einen solchen Reichtum an Bezügen und inneren Vorgängen herauszuarbeiten. – Der Hintergrund, der sich in dieser Aufführung einstellt, ist daneben aber auch auf einen ebenso einfachen wie genialen Kunstgriff zurückzuführen. Der Don Juan von Georges Weiss ist älter, als man sich ihn üblicherweise vorstellt. Die Schönheit ist hier verflogen, das Feuer erloschen. Alles, was einen Lebemann ausmacht, fehlt.
Und so weckt diese Gestalt zu Beginn Neugier. Man möchte wissen, was hinter ihr steckt; was sie treibt, immer wieder auf Eroberung auszugehen. (Schön, wie Freihart das szenisch darstellt: Beim ersten Auftritt sieht man Don Juan nur von hinten; er ist vom Publikum abgewendet, verborgen hinter Mantel und Hut. So spürt man von Anfang an: Dieser Mensch hat ein Geheimnis.)
Mit der wechselnden Beleuchtung, in der die verschiedenen Szenen Don Juan erscheinen lassen, löst sich das Rätsel schrittweise auf. Es geht Don Juan gar nicht darum, die Frauen ins Bett zu kriegen, sondern ihren Widerstand zu brechen. Sobald sie sich seinem Willen gebeugt haben, verlieren sie sein Interesse. Denn sie haben gezeigt, was Don Juan immer wieder bestätigt haben muss: dass sein Wille allmächtig ist. Deshalb ist er Atheist. Er braucht keinen Gott mehr, weil er sich selbst an dessen Stelle gesetzt hat.
Aber merkwürdig. Dieser Mensch, der keinen Gott mehr braucht, ist aufs Äusserste abhängig von seinem Diener. Immer wieder befiehlt er Sganarell aufzupassen, wenn der Moment naht, wo er sich selbst bestätigt. Offenbar braucht er jemanden, dem er seinen Erfolg vorführen kann. – Aber er braucht auch jemanden, der an seiner Stelle Furcht und Mitleid empfindet, damit er selbst hart bleiben kann. So schickt er den armselig winselnden Günter Rainer mit dem Leuchter hinaus, um den steinernen Gast zu begleiten, während er selbst brütend sitzenbleibt.
Wenn aber der Diener all jene Regungen ausdrücken muss, die dem Herrn abgehen, so bedeutet dies, dass Günter Rainers Aufgabe noch anspruchsvoller ist als die des Don-Juan-Darstellers. Es wird von ihm nichts weniger verlangt, als das Stück mit seinem Verhalten laufend zu kommentieren. – Dass Günter Rainer den Ausdrucksreichtum und die Präzision mitbringt, die dafür erforderlich sind, gereicht ihm zu hohem Lob. Sein Sganarell bleibt in jeder Sekunde ganz echt, ganz menschlich.
Nun blieben noch dreizehn weitere Darsteller aufzuzählen, die alle den nachhaltigen Eindruck der Aufführung herstellen halfen. Aber es ist nicht nötig, ins Detail zugehen. Wir haben es mit einer schönen, reifen Leistung zu tun, die dokumentiert, dass Freihart die Schauspieler zu leiten und am richtigen Ort einzusetzen weiss: die guten da, wo sie ihre Fähigkeiten voll ausschöpfen können und wo die Arbeit für sie ergiebig ist; und die weniger Begabten da, wo sie auf ihre Weise die Aufführung stützen und dazu beitragen, dass sich eine runde Sache ergibt.