Maria Stuart. Friedrich Schiller.
Schauspiel.
Alex Freihart. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 2. Oktober 1978.
Die Gründe, die Schiller gegenwärtig zu einem der schwierigsten Autoren deutscher Zunge machen, liegen wesentlich bei seiner Sprache. Es ist eine Sprache, die wir nicht mehr zu hören und die Schauspieler nicht mehr zu sprechen gewohnt sind. Schillers Sprache hat den Alltag weit hinter sich gelassen, den Weimarer Alltag von 1800 ebenso wie den heutigen. Sie ist eine Kunst-Sprache, künstlich, kunstvoll; bestimmt, Kunstmässiges auszudrücken, und nichts sonst. Das macht uns Schiller mehr als fremd. Es macht ihn schwierig.
Gerade "Maria Stuart" zeigt, dass von dieser Sprache das Äusserste abverlangt wird. Es gibt nichts, woran sich der Zuschauer halten könnte, nichts an Atmosphärischem, nichts an äusserlichen, sichtbaren Vorgängen – ausser eben der Sprache. In ihr wird Marias blutige, lastervolle Vergangenheit hereingeholt, durch sie gerät die anfangs strahlende Elisabeth ins Zwielicht, sie tut uns Marias Läuterungsprozess kund.
So schafft diese eine, durchgehende Sprache die Einheitlichkeit des Werks. Ungeachtet des Standes, ungeachtet der Gemütsverfassung, in der sie sich befinden, immer sprechen die Personen dieselben reichen, wohlgefügten Verse. Zum Dialog, zum geschwinden Schlagabtausch kurzer Sätze kommt es nicht. Sondern stets behält der Text seinen beherrschten, gemessen schreitenden Charakter. Die Schauspieler sprechen nicht einen "natürlichen" Satz, sondern stets kunstvoll gebaute, beinahe umständlich wirkende Perioden, die man am liebsten Arien nennen möchte. Und damit erreicht Schiller das Ziel seiner Kunst. Inmitten des unerbittlich vorwärtsdrängenden Schicksals, inmitten der Leidenschaften ist eines von all dem nicht berührt: die Sprache. Und da, wo wir hilflos und wie vernichtet vor Marias tragischem Ende stehen, bringt sie uns zur Besinnung, und an ihr erfahren wir, was "Freiheit des Geistes" für Schiller bedeutete. Diese unwandelbare Sprache zeigt, dass der Geist sich nicht "bestimmen" lässt, selbst wenn die Ereignisse bis zum Entsetzen gesteigert sind.
Die Schillersche Sprache ist es auch, die allen Figuren Grösse, oder wie man damals sagte: Erhabenheit verleiht. Gross ist nicht nur, wie sich Maria in ihr Schicksal fügt, gross ist ebenfalls Mortimers Leidenschaft. Und auch Elisabeth geht keinen Moment die Erhabenheit ab, wenn sie sich schwach zeigt. Es gibt mithin keine Gestalt, auf die wir herabblicken oder die wir gar als unseresgleichen betrachten könnten.
Dieser Grösse jedoch hat Regisseur Alex Freihart, aus durchaus modernem Empfinden heraus, misstraut. Und so legt er die Inszenierung darauf an, Maria und Elisabeth als Menschen wie du und ich in Erscheinung treten zu lassen. Im dritten Akt, wo Maria über den weiten Park in Begeisterung gerät, verleiht ihr Dinah Hinz jungmädchenhafte Züge. Später, in der Begegnung mit Elisabeth, hat sie die Bewegungen einer zornigen kleinen Arbeiterfrau. Noch weniger Anmut und Würde darf Gerda Zangger als Elisabeth zur Schau tragen. Aufgedonnert wie eine alternde Kokotte, extravertiert und larmoyant, erscheint sie von Anfang an als gefallsüchtiges, neurotisches Weib.
Aber an Schiller lässt sich ungestraft nicht deuteln. Denn einer, der die Sprache so beherrscht wie er, hat auch die Handlung bis in alle Einzelheiten durchkomponiert. In kompliziertem Gleichgewicht sind die Figuren um die beiden Königinnen aufeinander bezogen, und damit schränkt Schiller den Interpretationsrahmen der Theaterleute wie kein anderer Dramatiker ein. Es ist unmöglich, eine einzelne Rolle umzudeuten, ohne dass das Ganze gefährdet würde. Wenn einer, wie Alex Freihart, es trotzdem versucht, ist das Ergebnis eindeutig: zurück bleibt die Story, aber die Kunst ist weg.
Man kann es auch anders fassen: Das Ganze ist derart streng geformt, dass es der Zuschauer unweigerlich merkt, wo falsch gespielt wird. Er merkt dann, dass Heidi Diggelmanns Hanna zu wenig einfach ist, zu wenig verliebt auch in ihre Herrin. Man sieht, dass Winfried Görlitz' Paulet zu abgründig ist, wo es doch um reine Lauterkeit des Herzens ginge; man sieht, das Rolf Schwabs Mortimer viel zu beherrscht und vernünftig ist, wo doch ständig von einem ungestümen Jüngling gesprochen wird. Völlig an der Rolle vorbei spielt schliesslich Rolf W. Böning, der als Leicester kindliche Hilflosigkeit markiert, statt einen gewandten, doppelzüngigen Egoisten darzustellen.
Da helfen dann die beiden Ausnahmen Georges Weiss und Günter Rainer nicht viel, denn das "Kunstganze", wie man es seinerzeit nannte, ist längst auseinandergebrochen. Immerhin, sie treffen haarscharf, was die Rolle verlangt, wenn auch Weiss seinen Part allzusehr auf Alltagsduktus herabdämpft.
Als Hauptwiderstand im Umgang mit Schiller erweist sich indessen die Sprache, mit ihren langen, arienhaften Satzperioden. Man kann nicht übersehen, dass "Maria Stuart" als ganz eigentümliche Sprach-, Ideen- und Gefühlsmusik aufzufassen ist. Und daraus ergeben sich unerbittlich hohe Anforderungen an die Schauspieler, zumal an die heutigen, die auf einen ganz anderen Theaterstil als den Schillerschen hin orientiert sind. Um so krasser und eindeutiger ist jedes Misslingen; dann, wenn die Zuschauer nicht mehr an den Lippen des Schauspielers hängen, sondern abschalten und ungeduldig darauf warten, dass "es" weitergeht. Dann hat die Aufführung Schiller gegenüber versagt.
Selten war der Applaus an einer Premiere so dünn und so kurz wie nach "Maria Stuart", einer immerhin dreieinviertelstündigen Aufführung. Dass ein Theater sich in grosse Schwierigkeiten stürzt, wenn es heute Schiller spielen will, ist bekannt, und hoch ist das Risiko des Misslingens. Dass das Städtebundtheater vor Schiller nicht bestanden hat, wird man ihm deshalb nicht zum Vorwurf machen dürfen. Aber dass es seine Kräfte für ein beinahe aussichtsloses Unternehmen einsetzte, statt sie auf ein erreichbares Ziel zu richten, ist bedauerlich.