Der Leibgardist. Franz Molnar. / Nora oder ein Puppenheim und Hedda Gabler. Henrik Ibsen. / Der Hofmeister. Jakob Michael Reinhold Lenz.

Schauspiele.

Peter Palitzsch, Adolf Dresen, Angelika Hurwicz. Akdademietheater Wien.

Der Bund, 20. Oktober 1979.

 

 

Fragmente einer Wiener Dramaturgie

Drei Abende im Akademietheater der österreichischen Hauptstadt

 

Am ersten Abend zeigte sich, wie schwer es ist, sich anhand von Theaterkritiken zu informieren. Im Akademietheater (dem kleinen Haus des Burgtheaters) war "Der Leibgardist" von Franz Molnar aufgeführt worden, und nun berichteten die Zeitungen von dieser Premiere. Zwei der Kritiken widersprachen sich in allen Punkten. Was die eine lobte, war für die andere Anlass zum Tadel. Beide erschienen in Boulevardblättern, bei beiden war also Vorsicht geboten. Doch selbst die gehobene "Presse" half nicht weiter. Denn auch sie litt unter derselben Not: dem Platzmangel.

 

Und so wurde hier sichtbar, wohin die Tendenz zur Verknappung führt. Es kann sein, dass man es dem Leser leichtmachen und seine Konzentrationsfähigkeit schonen will. Oder es mag darauf zurückzuführen sein, dass die Kritiker unter dem Druck der Aktualität stehen und ihre Artikel so schnell wie möglich liefern müssen. Doch die Tatsache bleibt bestehen, dass die Berichte (in Wien wie in Bern und anderswo) im Lauf der Jahre kürzer geworden sind.

 

Für die Theaterkritik – und das gilt für den Feuilletonjournalismus insgesamt – hat das zur Folge, dass es oft nur noch zu Aperçus und schlaglichtartigen Bonmots reicht. Für Differenzierung aber fehlt der Raum. Das bedeutet, dass es zunehmend schwieriger wird, argumentativ zu schreiben. Der Kritiker kann kaum mehr begründen, wie er zu seinem Urteil kam. Er kann seine Massstäbe nicht mehr vor den Augen der Leser erarbeiten – und das allein wäre konstruktive Kritik, die Theaterleute und Leser weiterbringt. Statt dessen aber bietet die Rezension bloss noch Resultate. Und je nachdem, wie gut der Leser die Urteilsweise seines Kritikers kennt, wird er den Bericht berücksichtigen oder ignorieren.

 

Wie war nun aber "Der Leibgardist"? "Der Leibgardist" ist ein echter Molnar. Also ein Stück, das "ein Zwischenreich aus halbem Tag und halbem Traum schafft" (Friedrich Torberg) und deswegen während der Aufführung Kopf und Herz vollständig in Anspruch nimmt.

 

Das dramaturgische Verdienst liegt beim Grundeinfall: Ein Mime, seit sechs Monaten mit einer Schauspielerin verheiratet, befürchtet mit einigem Grund, seine Gattin sei der Ehe bereits überdrüssig und warte auf einen andern, "den" Unbekannten. Ihr Sehnen gilt, wie der Schauspieler herausfindet, einem Offizier. Um nun dem zu befürchtenden Liebhaber zuvorzukommen und um gleichzeitig die Treue seiner Frau zu erproben, verkleidet sich der Mime selber in einen Gardeoffizier. Und verführt die eigene Frau.

Die Aufgabe ist äusserst anspruchsvoll. Der Schauspieler, in diesem Fall Michael Heltau, muss einen Mimen spielen und dazu einen Leibgardisten, der vom fiktiven Mimen gespielt wird. - Ich wüsste in der Schweiz keinen Schauspieler, der diese Aufgabe mit ähnlicher Delikatesse gelöst hätte wie Heltau. Denn die Gefahr ist offensichtlich: Übertreibung nach beiden Seiten, weil der Darsteller nur unter Zuhilfenahme stärkster Kontraste in der Lage ist, die beiden Rollen auseinanderzuhalten.

 

Heltau aber ist so stark, dass er die beiden Rollen fast unerträglich nahe zusammenbringen kann. Es gab Momente, wo hinter dem Gesicht des Leibgardisten für Sekunden ein zweites emportauchte: das Gesicht des Mimen. Dann gab sich der Mensch auf der Bühne einen Ruck – und war wieder ein Leibgardist.

 

Solch eine Vereinigung zweier Gestalten in einem einzelnen setzt eine Sicherheit des Mimischen voraus, wie sie nur ganz grosse Schauspieler mitbringen. Und das Burgtheater ist ausserordentlich reich an hervorragenden Talenten. Das tritt besonders in den kleinen Rollen deutlich zutage. Während sich nämlich auch ein mittelmässiger Darsteller von Szene zu Szene steigern kann, um am Schluss einen starken Applaus zu haben, muss der Spieler kleiner Rollen von Anfang an dasein.

 

Das Ganze ist natürlich eine Geldfrage. Nur ein Burgtheater kann es sich leisten, Leute für ein Spitzengehalt zu engagieren und sie dann bloss vier, fünf Sätze sprechen zu lassen. Dafür aber erreichen die Aufführungen, vor allem in der Akademie, eine schauspielerische Detailtreue, die ihresgleichen sucht. Da wird dann der kurze Auftritt einer Logenschliesserin (Bibiana Zeller) zu einem Kabinettstück der Porträtkunst, und der Gläubiger (Otto Bolesch), eine ebenso kurze Rolle, erhält an der Premiere Sonderapplaus.

 

Am zweiten Abend zeigte sich, wie verwöhnt das Wiener Publikum mit gutem Theater ist. Während sich der Berner auch bei eher mittelmässigen Aufführungen zu minutenlangen Beifallsstürmen hinreissen lässt, rühren die Wiener bei den Aufführungen im Akademietheater – und mögen sie noch so gut sein – kaum die Hände. Ja, es kommt vor, dass sich Platzanweiser und Sitznachbarn indigniert nach dem Begeisterten umdrehen, der sich am Schluss einer Aufführung erkühnte, "Bravo!" zu rufen...

 

Eine Leistung, die diesmal haftenblieb, war Maresa Hörbigers Nora in Ibsens "Nora oder ein Puppenheim". Mit feinstem Gespür für die Wirkung der Pause – nicht bloss zwischen den Sätzen, sondern auch zwischen den einzelnen Wörtern – gelang es der Hörbiger, Ibsens Sprache das Glatte zu nehmen und in den Brüchen spürbar zu machen, was alles in dieser Frau arbeitet, wenn sie das letzte und gleichzeitig erste echte Gespräch mit ihrem Mann führt.

 

Und als Ganzes war die Aufführung ein Beispiel für die konsequente Ibsen-Pflege des Akademietheaters. Denn neben der "Nora" stand gleichzeitig die "Hedda Gabler" auf dem Spielplan. So konnte sich jeder, der wollte, mit der Frage auseinandersetzen, welche Wege der Bemühung um Ibsen offenstehen.

 

"Hedda" – für mich der überzeugendere Weg – war von Peter Palitzsch gewissermassen von Pinter her inszeniert worden. Er begegnete Ibsens Sätzen mit dem gleichen grundsätzlichen Misstrauen, das uns Pinter gelehrt hat, indem in seinen Stücken die Unverständlichkeit selbstverständlich geworden ist. Und damit trat das Rätsel, das alle grossen Kunstwerke sind, in voller Schärfe zutage.

 

Regisseur Adolf Dresen ging in "Nora" den Weg der Werktreue. Es wurde ab Blatt gespielt, und dadurch ergab sich eine authentische, wenn auch nicht sehr starke Aufführung. Immerhin, es standen Darsteller zur Verfügung, die ihre Rollen souverän ausleuchteten und durch den Dienst an einem harten Text ermöglichten, dass das Bedeutende sich von selbst herausschälte. Eines kann die werktreue Inszenierung indessen nicht geben, so gut sie im übrigen sein mag: Impulse, die ausgehen über die ganze Theaterlandschaft. Denn im Grunde zeigt sie immer nur das, was man schon weiss.

 

Dafür jedoch wird mit dieser Inszenierungsweise in Kauf genommen, dass die Aufführungen zuweilen ins Gepflegte und Kunstgewerbliche abgleiten. – Das führte zum Beispiel ein Abend in der "Burg" vor, wo Shakespeares "Sommernachtstraum" gegeben wurde. Hier war es plötzlich wieder, das fade, sterile Burgtheater, wie es das weitverbreitete Vorurteil kennt. Und dabei war die Aufführung bloss dem Risiko der Werktreue erlegen, das sich immer dann einstellt, wenn keine Inspiration dazukam.

 

Am dritten Abend zeigte sich, was das Theater der Literatur bringen kann, wenn es gut ist. – Beim Lesen habe ich Sätze vor mir, die eine Person sagt. Wer aber diese Person ist, wie sie spricht, aussieht, sich bewegt, kann mir der Text nicht vermitteln. Das einzige, was er bietet, ist ein fettgedruckter Name am Anfang der Zeile.

 

Erst, wenn ich den Text intensiv und mehrmals gelesen habe, werden einzelne, aber kaum je alle Gestalten so plastisch werden, dass ich sie klar und deutlich sehe. Das Theater jedoch liefert zum ersten Satz der Rolle auch schon den Menschen. Gerade im "Hofmeister" (Regie Angelika Hurwicz): da enthielt die Art, wie die Darsteller bei ihrem ersten Auftritt die Füsse setzten, bereits eine ganze pantomimische Charakterbeschreibung.

 

Natürlich, gegenüber der Lektüre bringt jede Aufführung bloss "eine" Deutung der Vorlage. Doch das nimmt der Theaterbesucher in Kauf, ja er geht gerade deswegen hin. Denn dank dieser Eindeutigkeit erhalten die Beziehungen zwischen den Dramenpersonen eine Klarheit, die der einzelne Leser in solch umfassender Weise gar nicht finden kann.

 

Das Beispiel der kleinen Rollen mag das verdeutlichen. Wenn eine Figur in einer Szene bloss zwei, drei Sätze sagen muss, dann habe ich als Leser die Tendenz zu vergessen, dass sie auf der Bühne steht. Erst wenn sie spricht, fällt sie mir wieder ein. Im Theater aber gibt ihre durchgehende Anwesenheit der Szene eine ganz neue Bedeutung. Denn neben das Wort kommt nun ein stummes Spiel, das das Gesprochene kontrastiert, ergänzt, ausleuchtet. Im "Hofmeister" wurde beispielsweise erst durch die meist stumme Anwesenheit des adeligen Bewerbers so richtig klar, was für ein patenter Kerl der Hofmeister eigentlich wäre. Und so lieferte das Akademietheater mit seinem beinahe unerschöpflichen Reservoir an schauspielerischen Talenten zu jeder auch noch so kleinen Rolle Menschen, die bis ins Detail stimmten.

 

Am selben Abend, wo ich die Aufführung des "Hofmeisters" besuchte, verlieh die Stadt Wien die Josef-Kainz-Medaillen für das Jahr 1978. Wenn ich in der Jury eine Stimme gehabt hätte, dann hätte ich dem ganzen "Hofmeister"-Ensemble, in Würdigung seiner plastischen Menschenschilderung, solch eine Auszeichnung zugesprochen.

Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt 0