King Lear. William Shakespeare.
Tragödie.
European Theatre Group of Cambridge University, Gastspiel in Bern.
Der Bund, 9. Dezember 1978.
Von unprofessioneller Intensität
"King Lear" – das ist die Geschichte vom König, der so stolz auftritt und so grauenhaft gründlich vernichtet wird. Wie ein Schatten folgt ihm das Verhängnis vom Moment an, wo er "alle Sorgen und Geschäfte abschütteln" will und auf jene hört, die "sagen, was sie sollen", statt auf jene, die "aussprechen, was sie fühlen". – "Lear" wird damit zur Geschichte vom Mann, der ganz unten durchmuss und dem nichts erspart bleibt, was einen Menschen brechen kann: Treulosigkeit seiner Kinder, Verstossung, Entwürdigung, Wahnsinn. Und wie am Schluss doch noch eine schwache Hoffnung aufglimmt, zeigt sich, dass da das Schicksal bloss ausholte, um den letzten Rest von Lebenswillen in diesem alten Mann auszutreten.
Solch eine elementare Geschichte lässt keinen Zweifel an der Grösse Shakespeares. Fragen aber konnte man sich, ob die Mitglieder der "European Theatre Group of Cambridge University" davor bestehen würden. Denn Rollen für junge Leute enthält das Stück eigentlich nicht, und es war deshalb zu befürchten, dass die Spieler mit äusserlichen Mitteln versuchen würden, den Mangel an Statur und den Altersrückstand durch Überzeichnung, wenn nicht gar Karikatur, aufzuheben. Um so höher ist es der Truppe anzurechnen, dass sie weder der einen noch der andern Versuchung erlag.
Was aber auf den ersten Blick wie notwendiger, wenn auch sinnvoller Verzicht aussieht, erwies sich in der Folge als haltbares und künstlerisch höchst ergiebiges Konzept. Die Studenten nämlich versuchten in keiner Weise, etwas aus ihren Rollen zu "machen", sondern sie spielten gewissermassen vom Blatt, ohne zu psychologisieren, zu ziselieren oder zu dramatisieren.
So ergab sich eine Aufführung, die sich eng an den Text hielt, und indem sie bloss aussprach, was da war, kam der Rhythmus des Dramas, das Schreiten des Verhängnisses also, geradezu elementar zur Anschauung. Davon lenkten weder überkandidelte Regieeinfälle noch laientheaterhafte Unbeholfenheit ab. Und während Shakespeare-Aufführungen sonst häufig vom Krampf gezeichnet sind, mit dem die Schauspieler dem Text nahezukommen suchen, ereignete sich hier das aussergewöhnliche Phänomen, dass sich der Text an die Truppe schmiegte, immer enger, bis beide eins waren.