Die heilige Johanna. George Bernard Shaw.

Schauspiel.

Franz Matter, Karl Weingärtner, Hanna Wartenegg. Städtebundtheater Biel–Solothurn.

Bieler Tagblatt, 20. Februar 1979.

 

 

Die Ironie der Verhältnisse und ihr Opfer

 

Für die Aufführung der "dramatischen Chronik" von George Bernard Shaw steht eine Johanna zur Verfügung, die alle Anforderungen an Echtheit und Seelenwärme erfüllt, die sich stellen lassen. Und so trifft Eleonore Bürcher den Kern ihrer Rolle. Denn sie spielt keine Heilige und auch keine Jungfrau – sie spielt überhaupt nicht. Sondern was sie darstellt, scheint so natürlich, das man darob die künstlerische Leistung beinahe vergisst. Und dabei zeigt Eleonore Bürcher etwas vom Schwersten, ja – im Stück von Shaw zumindest – geradezu eine Ausnahme: einen vollen Menschen nämlich; einen, der sich nicht hat reduzieren lassen, sondern der sein Verhalten nach Spontaneität, Vernunft und innerer Autonomie ausrichtet.

 

Das alles wird spürbar, indem Eleonore Bürcher ein Mädchen darstellt, dem alles Backfischhafte und Kindische, aber auch alles Altkluge und Frauliche fehlt. Ihre Johanna hat keinen wie auch immer gearteten "Appeal". Sie weckt nichts im Zuschauer; weder Begierde noch Sentimentalität. Sondern sie beschenkt ihn. Mit der Natürlichkeit ihres Trotzes, der aus ihren schwarzen Augen blitzt. Mit der Tiefe des Entsetzens, das ihr Gesicht verzerrt. Mit der Grösse der Aufgabe, die ihren Körper spannt. Mit einer aufsteigenden Freude, die ihre Stimme zum Jubeln bringt.

 

Und damit kommt die Ironie der Verhältnisse zum Vorschein, die George Bernard Shaw in seinen Stücken immer wieder aufdeckt. Dass wir es gar nicht ertragen, wenn jemand wirklich Mensch ist. Sondern da wird er, wie Johanna, entweder verketzert und zur Hexe gestempelt oder zum Heiligen erklärt und auf ein Podest gestellt.

 

Johanna, die sich unter die Soldaten mischt und den Menschen ein Kamerad sein möchte, stösst auf Ablehnung, Furcht, Misstrauen. Und so ist ihre Entscheidung für den Feuertod mehr als eine Angelegenheit von Ketzerei und Verstockung. Es ist ihre Antwort auf ein Schicksal, das für sie nur noch Isolation und Einsamkeit bereit hat, so oder so, unter den Menschen so gut wie im Gefängnis. Ironie der Verhältnisse...

 

Und zwar deshalb, weil wir uns in den andern ebenfalls erkennen, nicht nur in Johanna. Wir begreifen, warum sie auf ihre Weise handeln müssen, und wir können nicht anders, als ihre Gründe zu respektieren. Damit ist ausgesprochen, dass Shaw auf Schwarzweiss-Malerei verzichtet hat zugunsten eines Gemäldes, das uns auch in psychologischer und ästhetischer Hinsicht befriedigt. Weil es die Komplexität der Welt berücksichtigt.

 

Diesem Wesenszug von Shaws Drama wird Franz Matters Inszenierung vollauf gerecht. Der Triumph seiner Johanna ist nicht ein Triumph des Hauptdarstellers über die Mitspieler, sondern ein Triumph trotz der andern. Das heisst, die übrigen Schauspieler kommen in angemessener Weise zur Wirkung. Die Ausgewogenheit, die sich dadurch einstellt, ist mithin zurückzuführen auf optimale Besetzung. Die Protagonisten mit tragender Funktion zeigen ebenfalls nichts Aufgesetztes, sondern sie spielen wie Johanna ganz von innen heraus. Und werden damit glaubwürdig.

 

Winfried Görlitz, der eben noch in "Thomas More" mit ungewohnter Überzeugungskraft einen verschlagenen Charakter dargestellt hatte, spielt nun ebenso echt einen unkorrumpierten, gelösten Dunois. Und so baut sich in seiner Begegnung mit Johanna ein Netz von grosser Intensität auf, durch den Weg, den diese beiden starken Charaktere zurücklegen, um sich zu finden.

 

Die Wärme, die Görlitz hier aufbringt, findet ein Gegengewicht im der Gestalt des Grafen Warwick, den Günter Rainer zu einem präzisen Porträt englischer Kühle und Verfeinerung ausgestaltet. Damit wiederum kontrastiert das schwerblütige Verhalten von Aldo Huwylers Kaplan de Stogumber und Ulrich Radkes Bischof von Beauvais. Und von ihnen heben sich noch einmal die zurückgehaltene Schärfe des Inquisitors (Hans Schatzmann) und Luciano Simonis treffende Darstellung eines Dominikanerbruders ab.

 

Auf diese Weise ergibt sich eine Aufführung von höchst beachtlicher Lauterkeit. Wenn der Zuschauer gepackt wird – und er wird gepackt! – so ist das nicht auf Theatertricks und plumpe Drücker zurückzuführen. Franz Matter hat seine Regie vielmehr auf Zurückhaltung, Klarheit und Gleichmass ausgerichtet. In der Anordnung der Figuren waltet eine beinahe klassische Strenge. Im Spiel der Darsteller wird das Spektakelmässige und Äusserliche zurückgenommen. Die Inszenierung ist reduziert auf das Wesentliche. Auf die Prägnanz von Shaws Dialog, die klare Entwicklung der Handlung und die reine Abbildung der Verhältnisse.

 

Diesem Stilprinzip gehorchen auch Bühnenbild und Beleuchtung. Einfacheres als Karl Weingärtners in die Tiefe gestaffelten Vorhänge lässt sich nicht denken. Doch das Gefühl für den Raum, das darin zum Ausdruck kommt, ist derart subtil, dass die Atmosphäre der jeweiligen Schauplätze sich mit zwingender Kraft einstellt. Damit hat Weingärtners Kunst der Abbreviatur einen neuen Höhepunkt erreicht. Mit knappstem Aufwand entfaltet das Bühnenbild szenische Wirkungen von unübertrefflicher Intensität. Hanna Warteneggs Kostüme schliesslich, die häufig für unsere Bühne erdrückende Opulenz aufweisen, sind diesmal von diskreter Schönheit, die mit dem übrigen übereinstimmt.

 

Nicht ganz alles indessen fügt sich in dieses Ganze. Der Ton, in dem Hans-Heinrich Rüegg poltert, wenn der Vorhang aufgeht, wirkt aufgepfropft. Zwar, es stimmt, Robert de Baudricourts Verhalten soll unecht wirken. Denn er hat, nach Ansicht Shaws, "keinen eigenen Willen und überdeckt diesen Mangel, indem er seinen Diener schrecklich anbrüllt". Doch Rüegg ist noch nicht so weit, dass man ihm glaubt, nicht er, sondern seine Figur kompensiere Unsicherheit durch überlautes Verhalten. So wäre hier vielleicht, entgegen Shaws Anweisung, Dämpfung doch angebracht.

 

Dämpfung allerdings ist nicht möglich bei der eigenwilligen Interpretation, die Alexander Pelz der Gestalt des Dauphins gibt. So fällt er denn deutlich aus dem Rahmen, wenn er sich wie ein kleiner Affe die Haare kratzt oder sich wie ein verschüchtertes Bürschchen in eine Ecke seines Throns drückt. Aber er fällt weniger aus dem Rahmen der Aufführung als aus dem Rahmen der Etikette: Der König als sein eigener Hofnarr. Das zeigt Pelz mit mitreissendem Temperament. Und zugleich führt er ein weiteres Exemplar jeder reduzierten Menschen vor, unter denen es für eine Johanna, tot oder lebendig, als Mensch oder als Heilige, keinen Platz gibt.

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