Wienerinnen. Hermann Bahr.
Lustspiel.
Bruno Felix. Gastspiel des Theaters für den Vorarlberg im Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 20. Februar 1979.
Eine sehr fade Angelegenheit
Von all dem, was die Besten um die Jahrhundertwende beschäftigte, ist in den "Wienerinnen" nichts zu spüren. Und dabei handelt Hermann Bahrs Lustspiel von denselben Themen: Es geht um Liebe, Ehestand, launische Frauen, fragwürdige Gesellschaftsordnung, Daseinsleere des Einzelnen. Aber Bahr bleibt an der Oberfläche, wo andere in die Tiefe stiegen, er hält sich an die Schablone, wo die anderen Wirklichkeit entwarfen.
Was den sogenannten Launen der Frau zugrundeliegt, dem war der analytische Tiefblick Sigmund Freuds bereits 1895, fünf Jahre vor Erscheinen der "Wienerinnen", in seinen "Studien über Hysterie" auf die Spur gekommen. Und im selben Jahr hatte Arthur Schnitzler in seiner "Liebelei" diagnostiziert, woran die Wiener Gesellschaft krankte. Ebenfalls 1895 war "Effi Briest" erschienen, wo der alte Fontane mit unübertrefflicher Sorgfalt und Abgeklärtheit über Frau, Ehe, Gesellschaft nachdachte. Und schliesslich hatte in diesem Jahr Henrik Ibsen mit dem Aufdecken der "Lebenslüge" in der "Wildente" das Empfinden einer ganzen Zeit getroffen.
Die Jahrhundertwende also war eine Zeit, wo die Besten, aber nicht nur sie, sich mit dem Anschein nicht mehr zufrieden gaben, sondern sich um die Tiefe und den Hintergrund bemühten. Es war eine Zeit, wo die Dichter eine Sprache entwickelten, die sich hauchdünn über den Abgrund spannt und die noch nie so durchsichtig war für die Geheimnisse des Inneren.
Mitten in dieser Zeit entstand Hermann Bahrs Lustspiel: Unbekümmert, trivial, mit breitbeinigem Spott, um keine Antwort verlegen. Gegenüber dem, was die andern geleistet hatten, nahm es sich so flach und bieder aus, dass darin vielleicht der Grund liegt, warum es in völlige Vergessenheit geraten konnte.
1900 kam es heraus, wurde 1911 ein zweites Mal aufgelegt und seither nie wieder gedruckt. Heute ist es deshalb praktisch nicht mehr aufzutreiben. Den Antiquariaten ist es unbekannt, in Stadt- und Universitätsbibliotheken nicht greifbar; nur in Zürich verstauben noch zwei Exemplare auf einem Regal, wahrscheinlich die beiden einzigen, die es in der ganzen Schweiz noch gibt. - Dieses Lustspiel nun hat das Theater für den Vorarlberg ausgegraben und in Szene gesetzt. Doch die Frage, aus welchem Grund es sich diese Mühe nahm, hat die Aufführung nicht beantwortet.
Noch immer plappern die Figuren derart leeres und oberflächliches Zeug, dass Interesse an ihnen nicht aufkommen kann. Ihre Probleme sind uns denkbar fremd: Ob man bei der englischen Mode mitmachen soll, was man von der Wiener Sezession hält, die Schwierigkeiten, die man mit den Dienstmädchen hat, ob Wien einen literarischen Salon braucht – kurzum, Bahr verarbeitete Wiener Lokalklatsch, platt und unintereressant, wie es jeder Klatsch für Aussenstehende ist.
Handlung gibt es so gut wie keine: es heiraten zwei Paare, die Ehe vegetiert mehr schlecht als recht, bis die Paare nach drei Akten beschliessen, von nun an – wer weiss, für wie lange – wieder besser zusammen auszukommen. Dazwischen gibt es ein paar Tränen, Schmollmündchen, ein gesellschaftliches Skandälchen, Getuschel, Getratsche und zwei, drei Lustspieleffekte, die man anderswo bis zum Überdruss und erst noch besser gesehen hat.
Völlig ungeniessbar, wenn nicht gar ausgesprochen dumm, ist schliesslich die Moral, auf die das Ganze hinausläuft. Der Mann, der seine Frau mit konsequenter Strenge behandelt, oder, wie es im Stück heisst, "beizt", wird ihre Launen brechen, so dass sie ihm am Ende folgt wie eine Hand oder ein Fuss. Andernfalls läuft der Herr der Schöpfung Gefahr, zum dämlichen Pantoffelhelden und Dienstmann seiner Gattin zu werden. Schöne G'schichten!
Ein solches Stück lässt sich heute wahrscheinlich nur noch unter der Voraussetzung spielen, dass man es als Dokument behandelt. Es stünde dann für die Dummheit, Mittelmässigkeit und Leere sowohl der Figuren wie des Autors. Und es würde zum Zeugnis jener blinden Verlogenheit, gegen die Freud, Ibsen, Schnitzler und Fontane sich ohnmächtig fühlten.
Wenn es gelänge, die stupiden und unbeholfenen Dialoge durchsichtig zu machen auf das, was Bahr nicht gesehen hat, und wenn es gelänge, jene Probleme zum Vorschein treten zu lassen, über die das Lustspiel hinwegmogelt – die Entwürdigung der Bediensteten, die Öde des Grossbürgertums, die innere Unzufriedenheit der Menschen – dann liesse sich eine Aufführung denken und rechtfertigen. Durch geschickte Streichungen und überlegten Einsatz der mimischen Mittel also müsste der Regisseur hinter der grinsenden Albernheit des Lustspiels die Wahrheit unglücklicher und fehlgeleiteter Menschen hervorholen.
Doch von derlei Erwägungen unberührt, hat sich Regisseur Bruno Felix brav an die Vorlage gehalten und treu ab Blatt spielen lassen, wie wenn das Stück, so wie es ist, noch etwas hergäbe. Da Felix andererseits auch darauf verzichtete, den "Wienerinnen" durch eine ununterbrochene Kette komischer Einfälle Fluss und Tempo zu verleihen, stellte seine Inszenierung – gewissermassen aus Versehen – die Schwächen des Stücks in ihrer ganzen Jämmerlichkeit bloss: Die unzulängliche Handlungsführung, die unpsychologische Figurenzeichnung, die verstaubte Moral, die reaktionäre Weltanschauung.
Doch trotz all dieser Handikaps liesse sich noch immer eine bedeutende Aufführung denken. Dann nämlich, wenn die Schauspieler Menschendarsteller wären. Wenn sie, aus ihrer Kunst heraus, den leeren Typen Hintergrund, Vielfalt, Leben gäben. Kurzum, aus ihnen Menschen machten. Aber bei allem redlichen Einsatz beschränkten sich die Vorarlberger Darsteller darauf, mit konventionellen Mitteln schablonisierte Gestalten nachzuzeichnen. Und damit wurde das Versagen vollständig – oder, in der sprichwörtlichen Höflichkeit der Wiener ausgedrückt: Eine sehr fade Angelegenheit.