Deutschland. Ein Wintermärchen. Heinrich Heine.
Rezitation.
Gastspiel von Lutz Görner im Kleintheater Kramgasse 6, Bern.
Der Bund, 18. Oktober 1979.
Unerbittlicher Kopf und grosses Herz
Es fällt mir leicht, den Mann zu loben: Lutz Görner, schätzungsweise anfang dreissig, Schauspieler, Rezitator von Heines "Deutschland. Ein Wintermärchen". Dieser Mann steht den ganzen Abend lang allein auf der Bühne, natürlich in Jeans, und er steht immer am selben Fleck, in der Mitte vorn. Der einzige Gang, den er sich ab und zu erlaubt, sind die paar Schritte zum Wasserglas, wenn er ein Caput gesprochen hat. Das ist alles, was es zu sehen gibt.
Aber zu hören ist eine Epoche, eine Landschaft, eine Reise und ein Mensch zugleich. Da steht nüchtern Berichtetes neben unverschämter Polemik, der krasse Vergleich neben der zwingenden Vision. Und bei alledem ist Heine von unmässiger Frechheit, Pietätlosigkeit und Aggressivität, bis dahinter spürbar wird: Verzweiflung, Sehnsucht, unmögliche, weil unerwiderte, Liebe zu Deutschland.
Vielleicht wäre herausgekommen, mit welch kaltem Scharfsinn und welch effektsicherer Raffinesse der Text gemacht ist, wenn Lutz Görner ihn mit mehr Distanz gesprochen hätte. Aber statt Abstand zu halten, begibt sich Görner mitten ins Gedicht, er leiht ihm seine Stimme und macht Heines Anliegen zu seinem.
Und so fand dafür bei Görners Rezitation das unmittelbar Ausdruck, woran Heine zerbrach: ein grosses Herz und ein unerbittlicher Kopf, die sich nicht versöhnen können, weil die politischen Zustände verschissen sind.