O Bladdi Neit oder Das Vergnügen, tausend Tode zu sterben. N.N.
Spectacle Grand Guignol.
Galerietheater "Die Rampe", Bern.
Der Bund, 31. Januar 1980.
Schwaches Geschichtchen – starkes Theater
Uraufführung eines Spectacle Grand Guignol
Das Negative vorweg: Das Spectacle Grand Guignol "O Bladdi Neit oder Das Vergnügen, tausend Tode zu sterben" beruht auf einem dünnen, kaum tragfähigen Handlungsgerüst. Man wird Zeuge eines Lastwagenunfalls. Man verfolgt die Karriere eines Bauarbeiters, der zum Bohrführer befördert wird, um die Stelle des verunglückten Kollegen zu versehen. Man vernimmt, dass sein Kind erkrankt ist, und man ist dabei, wenn es stirbt.
Es wird also gestorben, blutig, schmerzvoll, makaber. Und dazwischen wird versucht zu leben. Aber wie das Sterben kein Sterben ist, sondern ein monströses Garausmachen des Schicksals, so ist auch das Leben kein Leben, sondern ein Vegetieren, im sinnlosen Refrain von Essen, Arbeiten und Schlafen. Instinktiv hat die Theatergruppe gespürt, dass da ein Zusammenhang besteht. Nur wer wirklich lebt, findet auch ein glückliches Ende.
Das kann einem während der Vorstellung aufgehen, aber man wird nicht dazu geführt. Zu vielfältig sind die Impulse, zu wenig ausgeführt die Handlung und das Gedankenmässige. Zugegeben, es wurde bewusst auf einen durchgehenden, spannenden Handlungsbogen verzichtet, und statt dessen wurde die Geschichte zu Nummern zerstückelt. Damit aber hat das Theater auch einen Nachteil eingehandelt, der jedem Nummernvariété anhaftet: die Beliebigkeit. Nie lässt sich die Abfolge so zwingend gestalten, dass jede Nummer eine plausible Daseinsberechtigung hat. Auf eine mehr oder weniger kann es nicht ankommen. Und so wendet sich das Interesse des Zuschauers vom Ganzen weg und den Einzelheiten zu. Doch während er dasitzt und auf den nächsten Effekt, die nächste Pointe und die nächste Nummer wartet, entsteht das Gefühl der Leere. Er wird unterhalten und hat am Schluss doch nichts, weil alles bloss im Moment wirkt und mit dem Moment vergeht.
"Nichts" und "alles" sagte ich im letzten Satz, und das ist natürlich pauschalisierend und ungerecht. Denn es gibt einzelne Nummern, die eine ganz starke Ausstrahlung und Wahrheit haben. Etwa die Szene im Tunnel und – eindrücklicher noch – der Kegelabend. Hier ist er getroffen, der Ton der kleinen Leute, und hier kommt auch zu unerbittlicher Klarheit die grauenhafte Verlorenheit der Existenzen. Und wenn der Volkstanz am Schluss gedreht wird mit seiner totenhaften Erotik, im farbigen Licht, dann stellt sich diese Szene neben Horváth in seinen besten Momenten. Kurz, für diesen Höhepunkt allein lohnt sich der Besuch der "Rampe". Doch nun gilt es ganz dickes Lob zu spenden. Wenn die Nummernfolge nämlich zerbröselt bis in die heterogensten Elemente, so ist dieses Verschiedenartige für die Darsteller gerade ein Anlass, alle Register ihres Könnens zu ziehen. Und das Schöne ist: Sie haben Register, und sie können sie ziehen.
Die neun Darsteller müssen tanzen, singen, musizieren und schauspielern zugleich. Und dabei haben sie Stillagen zu treffen, die von Pathos und Exaltiertheit über exakten Realismus und seine Karikatur bis zum grossen, aber präzis ausgespielten Gefühl reichen. Dass sie all das hinkriegen, ohne je das Peinliche zu streifen, zeigt, dass sie nicht nur elementare Spielfreude mitbringen, sondern auch sichere Beherrschung der Ausdrucksmittel. Da gibt es nichts zu kritteln. Und so, mit einem grossen Kranz für den Regisseur Peter Borchardt beladen, neigt sich die Waage des kritischen Urteils weit auf die Seite des verdienten Erfolgs.