Die Nashörner. Eugène Ionesco.
Schauspiel.
Franz Matter. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 4. Dezember 1979.
Stadttheater in der Aula der Gewerbeschule:
Flüchtige Begegnung mit älterem Stück
Es ist das Verdienst des Städtebundtheaters, die "Nashörner" von Eugène Ionesco zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung erneut zur Diskussion zu stellen. Doch die Frage, was von diesem Stück aus heutiger Sicht zu halten ist, lässt die Inszenierung von Franz Matter trotz ansprechender Schauspieler-Leistungen unbeantwortet. Zu vieles ist dem Rotstift des Bearbeiters zum Opfer gefallen. So ermöglicht die Aufführung bloss eine flüchtige Begegnung mit einem älteren Stück, statt eines packenden Wiedersehens mit einem zeitlosen Problem.
Selten, selten wird Ionesco noch gespielt. Vor zehn Jahren gab es ein Gastspiel des "Theaters 58" im "de Poche", vor spärlichstem Publikum. Am 4. November 1970 musste, wiederum im "de Poche", die Vorstellung abgesagt werden, weil sich nur fünf Zuschauer zu den "Opfern der Pflicht" eingefunden hatten. Seither gab es, Irrtum vorbehalten, in Biel keine Gelegenheit mehr, sich ein Stück von Ionesco anzusehen. Dasselbe zeigt sich auf schweizerischer Ebene. Es gab, vor sechs Jahren, im Studio des Stadttheaters Chur "Die Stühle"; vor fünf Jahren im Stadttheater St. Gallen "Welch gigantischer Schwindel". Und danach, Irrtum vorbehalten, nichts mehr. Nichts mehr von Ionesco, genau gesagt.
Merkwürdig ist, dass Ionesco trotz dieser Stille ein Begriff geblieben ist. Man weiss, dass er Wichtiges geschrieben hat, seine Stücke werden dem "absurden Theater" zugerechnet, in den Lexika wird sein Name immer an zweiter Stelle genannt, hinter Beckett, doch vor allen übrigen, die heute kein Begriff mehr sind.
Zur Zeit seines Ruhms, als er nicht mehr für die kleinen Experimentierbühnen schrieb, sondern mit Stücken anfing, die die Möglichkeiten eines grossen Hauses verlangen, da rissen sich die berühmtesten Theaterleute um die Uraufführung jedes neuen Titels. "Die Nashörner" zum Beispiel wurden zuerst im Pariser "Odéon" herausgebracht, und zwar unter der Regie von Jean-Louis Barrault, der auch die Hauptrolle spielte. Die englische Erstaufführung fand gar im "Royal Court Theatre" statt, mit Orson Welles als Regisseur und Sir Laurence Olivier in der Hauptrolle. Und die Rechte für die erste deutschsprachige Aufführung waren dem damals führenden Düsseldorfer Schauspielhaus übertragen worden, wo es Intendant Karl Heinz Stroux persönlich inszenierte.
Diesen grossen Aufführungen ist es nicht zuletzt zu verdanken, dass Ionesco heute noch ein Begriff ist. Ein Begriff allerdings, unter dem sich ein jüngeres Publikum nichts Bestimmtes mehr vorstellen kann. Denn die Aufführung von Ionescos Stücken wird seit zehn Jahren – und wohl noch auf einige Zeit hinaus – vernachlässigt. Unter diesen Umständen ist es dem Städtebundtheater Biel–Solothurn als klares Verdienst anzurechnen, dass es "Die Nashörner" wieder einmal zur Diskussion stellt.
Selbstverständlich wird man von dieser vergleichsweise kleinen Bühne nicht die Perfektion eines "Royal Court" oder eines "Odéon" verlangen dürfen. Man wird auch in Kauf nehmen, dass vieles bloss angedeutet oder gar weggelassen wird, was Ionesco vorschrieb. Es ist in Biel von den technischen Gelegenheiten her ja gar nicht möglich zu zeigen, wie ein ganzes Treppenhaus zusammenfällt oder wie eine Wohnung erschüttert wird durch ein Erdbeben. Auch ist das Ensemble zu klein, um jede Rolle genau so besetzen zu können, wie der Autor sie sich vorstellte. Woher etwa einen "Wisser" nehmen, mit den Merkmalen "pensionierter Primarlehrer, Sechziger, stolzer Ausdruck, weisser Schnurrbart, starke Nase"? Man wird notgedrungen mit Veränderungen und Vereinfachungen rechnen müssen.
Es fragt sich bloss, wie viele Abstriche das Stück verträgt. Wenn das Haus nicht erschüttert wird und die Treppe nicht
vor den Augen der Zuschauer in die Tiefe kracht, macht das nicht viel. Das sind Äusserlichkeiten. Es macht auch nichts, wenn der "Wisser" von Kurt Bigger keinen weissen Schnurrbart trägt und fünfzehn Jahre zu jung ist. Hauptsache ist, dass präzis gespielt wird und dass es plausibel wirkt. Was die Schauspieler sagen, muss mit ihrem Aussehen übereinstimmen und mit dem, was sie tun. Dann wird es möglich sein, dass die Aufführung mit reduzierten Mitteln gleichwohl jenen Eindruck hinterlässt, den das Stück beabsichtigt.
Die schauspielerischen Einzelleistungen sind in der Bieler Aufführung fast durchwegs ansprechend. Peter Glauser spielt sauber und überzeugend den jungen Karrierejuristen; bei Kurt Bigger kommen Wissers Engstirnigkeit und Fanatismus gut heraus; Verena Leimbacher spielt verhalten, aber schön nuanciert die junge Daisy; Beat Albrecht bringt einen durchaus möglichen Logiker; Alf Beinell einen eindeutig durchgehaltenen Jean; Paul Bühlmann drängt sich nicht in den Vordergrund, ist aber als "älterer Herr" ganz da; Hans Schatzmann schliesslich hält den Antihelden Behringer konsequent durch und lässt in keinem Moment Grösse oder Pathos aufkommen.
So hätte bei allen Einschränkungen eine beachtliche, packende Aufführung zustandekommen können. Dass die Bieler Inszenierung trotzdem mittelmässig, sehr mittelmässig ausgefallen ist, ist im Falle dieses Stücks besonders bedauerlich. Damit nämlich hat sie nicht geleistet, was man von ihr hätte erwarten dürfen: dass sie Antwort gibt auf die Frage, was von den "Nashörnern" aus heutiger Sicht zu halten ist, zwanzig Jahre nach der Uraufführung.
Wenn Franz Matters Inszenierung die Antwort schuldig geblieben ist, so dürfte das nicht zuletzt an der Vorlage liegen. Das dreieinhalbstündige Stück wurde nämlich auf knappe zwei Stunden gekürzt. So blieb zwar die Story erhalten, der Geist aber, die Ausstrahlung wurden Opfer des Rotstifts.
Was aber, wird man fragen, heisst denn Geist, Ausstrahlung? Es ist, würde ich antworten, der Rhythmus, in dem Behringer einsamer und einsamer wird. Die Leute um ihn herum fallen ab, einer nach dem andern. Sie haben genug; es ist ihnen zu anstrengend, Mensch zu sein; sie möchten werden wie die Tiere, wie Nashörner; einfach, plump, geradeausrennend. Die Last, ein Individuum zu sein, ein Einzelner, ist ihnen zu schwer geworden; sie wollen untergehen in der Masse.
Dieser Rhythmus des Abfallens, bis Behringer ganz allein zurückbleibt, zeigt sich in den Motivketten. Er zeigt sich darin, dass immer wieder die gleichen Fragen auftauchen. Er zeigt sich im Trompeten der Nashörner, in ihrem Getrampel, das in immer kürzeren Abständen die Handlung unterbricht.
Und etwas wie Rhythmus ist auch im Aufbau und in der Gliederung der einzelnen Szenen erkennbar, wo eine ganze Skala menschlicher Gefühle und Handlungen durchgespielt wird, so dass Behringer das, was im vierten Bild geschehen ist, mit den Worten zusammenfassen kann: "In der Zeit von ein paar Minuten haben wird 25 Jahre Ehe erlebt." Wie dieser Satz in Biel verschwiegen wird, so unterbleiben auch die Differenzierungen in Tempo, Sprache, Intensität.
Liegt es an der amputierten Fassung der "Nashörner", dass das Wechselvolle von Handlung und Stimmungen nicht zum Tragen kommt? Oder liegt es am Regisseur, der die Entschiedenheit nicht aufbrachte, die verschiedenen Stilebenen klar herauszuarbeiten? Wie auch immer – man hätte von der Neuinszenierung der "Nashörner" mehr erwarten dürfen. Auch in Biel.