Peter Freiburghaus, Leiter von Zampanoos Variété (Porträt).
Der Bund, 6. März 1982.
Begegnung mit...
Peter Freiburghaus: "Nicht gern eingeengt"
Der Leiter von Zampanoos Variété über sich selbst, sein Leben und seine Arbeit
Wir setzen uns nicht aufs Sofa, ein grünes Einzelstück, das einsam in einer Ecke steht und ins leere Zimmer hineinblickt. Wir lassen uns neben der Tür beim runden Holztisch und seinen vier wackeligen Stühlen nieder. Das Zimmer aber bleibt leer. Flach liegt der Boden da, in der Zimmermitte, und wartet. Die Sonne schickt zwei stille weisse Rechtecke auf den grauen Spannteppich, und noch immer wartet der Raum, er wartet auf den Auftritt wie eine leere Bühne...
Aber der Schauspieler tritt nicht auf. Er sitzt mir gegenüber am Rande des Zimmers auf einem der wackeligen Stühle. Er will diesmal niemandem etwas vormachen, er will... er selber sein. – Aber kannst du das überhaupt: keine Rolle spielen, wenn dir ein Journalist gegenübersitzt, der alle deine Sätze auf einem grossen Notizblock mitstenografiert? Der Journalist spielt doch auch! Er spielt die Öffentlichkeit, die etwas über Peter Freiburghaus, den Leiter von Zampanoos Variété erfahren will. Und dann gibt es noch ein anderes Publikum in der Dachwohnung an der Spitalackerstrasse: Wenn du durch die offene Tür hinüberblickst in die Küche, so siehst du, wie deine Freundin beim Bügeln das Gespräch mithört, das du mit dem Fremden führst.
"Was weiss ich!", schrieb der Theaterdichter Georg Büchner vor hundertfünfzig Jahren. "Wir wissen wenig voneinander. Wir strecken die Hände nacheinander aus, aber es ist vergebliche Mühe, wir reiben nur das grobe Leder aneinander ab, – wir sind sehr einsam. Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren." So sagte das Büchner. Und Peter Freiburghaus heute? "Ich kann nicht sagen, was ich bin; weder in Hinsicht auf meinen Beruf, noch in Hinsicht auf meinen Charakter."
Halten wir uns an die Äusserlichkeiten: Peter Freiburghaus wurde am 17. Februar 1947 in Laupen geboren. Die Eltern führten eine Eisenwarenhandlung, in der Peter als Primar- und später als Sekundarschüler auszuhelfen pflegte, so dass sich die Meinung bildete, er werde einmal das Geschäft übernehmen. Er aber, der selber noch kaum wusste, was er wollte, entfernte sich Schritt für Schritt von dieser vorgezeichneten Bahn. Nach dem Ende der Schulzeit ging er zunächst nach Lausanne, an die Handelsschule, um Französisch zu lernen. Die Eltern begrüssten den Entscheid, sie fanden, eine Lehre sei überflüssig, da Peter das Geschäft bereits kenne. Was ihm noch fehle, sei eine kaufmännische Ausbildung.
In Lausanne fing der junge Mann an, sich von zuhause abzulösen. Nach drei Jahren teilte er den Eltern mit, dass er noch ein viertes Jahr an der Handelsschule bleiben wolle, um nicht nur das Handelsdiplom, sondern auch die Wirtschaftsmatur zu machen. In Wirklichkeit aber ging es ihm darum, sich der Verpflichtung zur Geschäftsübernahme zu entziehen. Deshalb begann er mit zwanzig auch zu studieren; ein Semester Soziologie in Genf und eines in Bern. Aber noch bevor er richtig angefangen hatte, war ihm das Studium schon verleidet. Ich kann nicht über Büchern sitzen, gestand er sich, und er begann, sich an all dem zu beteiligen, was zu jenem Zeitpunkt (es war 1968) aufkam: an den Demos, an der Hippiewelle, am Hasch, am neuen Jazz. Damit drückte er, wie er heute sagt, seinen Protest gegen das Herkömmliche aus. Seine politische Radikalisierung entsprang freilich nicht nur einem Gefühl, sondern auch einer Einsicht: Ich bin jemand, sagte er sich, ich muss Stellung nehmen. Es genügt nicht, Sartre zu lesen, nötig ist die konkrete Aktion.
Aber währen Peter Freiburghaus sagen konnte, was der Gegenstand des politischen Kampfes sei, hatte er, nach Abbruch des Studiums, immer noch keine Ahnung, was er für sich selber wollte. Er verbrachte die Zeit mit Taxifahren und überlegte sich, ob er Lehrer werden solle. Einen Versuch bei der Feusi-Schule brach er nach zwei Tagen ab. Da traf er zufälligerweise eine Lausanner Bekannte, die spätere Fernsehansagerin Sylvia Hauser, unter den Lauben: "Ich mache nächste Woche die Aufnahmeprüfung für die Schauspielschule", erzählte sie. "Das wäre doch auch etwas für dich!" Peter Freiburghaus lernte zwei, drei Gedichte, ging hin und bestand das Examen. "Heute ist die Prüfung wohl strenger", kommentiert er trocken.
Noch immer sitzen wir im Zimmer, mit den Geräuschen aus der Küche, mit dem trägen Sonnenschein auf dem Boden und dem grünen, einsamen Sofa in der Ecke. Aber in Gedanken wandern wir von einer Station zur andern. Die Schauspielschule ist beendet. Peter Freiburghaus ist 24jährig. Jetzt hat er ein Diplom, aber "der ganze herkömmliche Theaterkram" passt ihm von vornherein nicht. Er spürt: Das ist nicht meine Welt.
So fährt er zu seinem Bruder nach Berlin und arbeitet bei einer freien Theatergruppe. Mit ihr stellt er eine Produktion für die Spielstrasse an den Münchner Olympischen Spielen auf die Beine. Er kommt zurück nach Bern und gibt an der Schauspielschule weiter, was er in Berlin gelernt hat: die Technik des Sensitivity-Trainings; er lehrt, wie man seine Hemmungen ablegen kann. Er macht Strassentheater mit ad-hoc-Gruppen. Er verbringt einen Sommer in Amerika. Dann bekommt er ein Engagement nach Lüneburg, als Regisseur und Schauspieler. Nach einem Jahr hat er genug. "Es war eine Provinzschmiere", erinnert er sich. "Alles musste viel zu schnell gehen."
Sein Vorurteil wird von der Erfahrung eingeholt. Er weiss jetzt, was am etablierten Theater nicht stimmt: "Das Vorgesetzten-Untergebenen-Verhältnis. Da musste ich zum Beispiel als junger Regisseur einen alten Schauspieler zurechtweisen, nur weil er zu spät gekommen war." Und ihm ist vor allem zuwider, dass "dieses Theater" nur über Intrigen läuft. "Nicht das Argument zählt", meint er, "sondern die Stellung in der Hierarchie".
Er fängt an, darüber nachzudenken, warum beim Theater Intrigen und Skandale häufiger sind als anderswo. Er findet, dass bei jedem Betrieb Konkurrenz, Neid, Aufstiegskampf vorhanden sind. Aber das Ganze dreht sich langsamer. Höchstens einmal im Jahr stellt sich die Frage, wer befördert wird und wer sitzenbleibt. Im Theater aber "entscheidet es sich von Stück zu Stück, ob man weiterkommt, ob man die grosse Rolle erhält. Ja, der Kampf spielt sich sozusagen nach jeder Vorstellung ab. Tag für Tag wird alles durchgekaut, die Vorstellung, der Applaus, der Direktor, das Publikum."
Peter Freiburghaus kommt zurück nach Bern. Er trifft Marco Morelli, der eine kleine Nummer probt, und zusammen mit Monika Baumgartner gründen sie den "Povero Circo Morelli". Zu dritt treten sie im Sommer 1975 auf dem Bärenplatz auf. Sie tun, als ob sie eine verarmte italienische Zirkusfamilie wären. "Wir hatten riesige Zuschauermengen", erinnert sich Peter Freiburghaus. "Und wir erhielten auch unerwartet viel Geld. Da kamen wir auf die Idee, das einen Sommer lang zu machen. Im Winter bauten wir eine Bühne, damit uns die Leute besser sehen konnten, und wir probten eine neue Veranstaltung. Im Sommer 1976 gingen wir auf Tournee. Damit war Zampanoos Variété geboren. Wir sagten, wir seien Zampanoos Kinder und nannten unsere Vorstellungen Variété, weil uns das die Möglichkeit gab, alles zu machen."
Zampanoos Variété versteht sich als alternativer Theaterbetrieb. Jedes Mitglied bleibt freischaffender Künstler und macht seine AHV-Abrechnungen selbst. Der Gewinn wird nach jeder Vorstellung unter die Mitwirkenden verteilt. Ein letzter Teil gehört der Gruppe; er bildet die Rücklage für die nächste Produktion, und mit ihm werden Mieten und Gebühren bestritten. Jedes Problem wird ausdiskutiert, die Gruppe regiert sich selbst nach demokratischen Regeln. Sechs Jahre lang.
Jetzt hat sich die Gruppe vorübergehend geteilt. Im Sommer 1982 wird Zampanoos Variété kein neues Programm herausbringen. Denn auch eine demokratische Gruppe leidet unter Verschleisserscheinungen. Die Demokratie, die man anstrebt, schafft in der Praxis Schwierigkeiten. "Das liegt schon daran", führt Peter Freiburghaus aus, "dass ich zum Beispiel der Älteste bin, mehr Erfahrung und demzufolge auch mehr Gewicht habe. Dadurch bin ich aber für die andern irgendwie zum Vater geworden. Und das brachte Schwierigkeiten wie beim Vater-Kind-Verhältnis. Ich möchte das auflösen und neu anfangen."
Peter Freiburghaus ist breit, in die Details zu gehen: "Es war die Meinung, dass der, der die Rolle des Chefs hat, nicht zu stark dominieren sollte. Also gab ich Gegensteuer und trat meine Ressorts an andere ab. Aber das war nicht immer eine gute Lösung, weil die andern oft weniger Erfahrung hatten und die Sachen nicht überzeugend machten. Ein anderes Problem bestand darin, dass nicht alle bereit waren, gleich viel zu leisten. Oft dachte ich: Die müssten doch sehen, dass sie mehr machen sollten. Aber gerade da haperte es. Wenn ich es ihnen sagte, machten sie aus Opposition oder Unvermögen nicht das, was ich erwartete. Und mit dem Delegieren ist es auch so eine Sache. Delegiert man nicht, so heisst es, man wolle sich eine Machtposition aufbauen. Delegiert man aber weiter, dann hat der andere das Gefühl, als Untergebener behandelt zu werden, und er schimpft: Du delegierst mir nur die Drecksabeit und behältst das Interessante für dich!"
Jetzt, wo kein Geld durch Zampanoos Variété hereinkommt, lebt Peter Freiburghaus von den Rücklagen, und er arbeitet mit dem Action Theatre London an einer neuen Produktion. "Ich bin froh, einmal nicht an alles denken zu müssen", bekennt er. "Das Action Theatre hat schon seine Struktur. Ich konnte auf einen fahrenden Zug aufspringen, und es blieb mir erspart, die Rolle des Hauptverantwortlichen zu übernehmen."
Während Peter Freiburghaus seine Geschichte erzählte, ist die Sonne weitergewandert. Sie zeichnet jetzt nur noch ein schmales Dreieck auf den Boden. In der Küche nebenan hat die Freundin aufgehört zu bügeln. Nun kommt sie ins Zimmer, um sich zu verabschieden. "Ich muss noch in die Stadt und mache ein paar Kopien", sagt sie zu ihrem Freund. Mir gibt sie die Hand. Es ist eine geschiedene Frau mit drei Kindern, mit der Peter Freiburghaus zusammenlebt. "Die Wohnung hat grösstenteils sie eingerichtet. Ein paar Sachen haben wir aber auch zusammen angeschafft." Peter Freiburghaus deutet nach hinten. "Zum Beispiel das grüne Sofa dort in der Ecke."
Fast sechs Jahre wohnen sie zusammen, aber: "Wir werden wohl kaum heiraten." Das steht für Peter Freiburghaus fest. "Warum? Ich sehe keinen Grund dafür. Schon der Namenswechsel ist lächerlich, und dann fahren wir steuertechnisch auf diese Weise billiger. Ehrlich, wir haben das Heiraten noch nie in Betracht gezogen. Ich fühle mich wohler so. Ich bin nicht gern eingeengt und möchte mich nicht festbinden lassen." Peter Freiburghaus merkt, dass er mit diesen Äusserungen in ein schiefes Licht gerät, und er ergänzt: "Das Verhältnis ist trotzdem klar. Ich gehöre hierher, und wir wollen zusammenbleiben, solange es geht. Wissen Sie, vielleicht sind wir gerade wegen der Freiheit, auf der das Verhältnis beruht, noch zusammen. Ja, und für die Kinder stelle ich eine Bezugsperson dar. Zwar bin ich für sie nicht der Vater, aber der Pesche..."
Peter Freiburghaus hat die Arme verschränkt. Es ist ihm offensichtlich nicht ganz wohl, Auskunft über seine Privatverhältnisse zu geben. Der leere Raum liegt jetzt im Dämmerlicht, und noch immer wartet er auf einen Auftritt. Doch von uns denkt keiner mehr an Theater. Wir sind jetzt am Punkt, wo man nicht mehr spielt. Darum zeigt die Körperhaltung von Peter Freiburghaus ja auch Verletzlichkeit. Man wird eben verwundbar, wenn man sich öffnet und dem andern preisgibt. "Peter Freiburghaus", frage ich, "was sind Sie für ein Mensch?" Er atmet tief ein und lehnt sich zurück. Lose hängen die Arme herab. Man sieht, wie in seinem Kopf die Gedanken herumgehen.
Dann beugt er sich vor: "Ich habe mir das noch nie überlegt... Aber man könnte sagen, dass zu meinen Hauptmerkmalen die Vielseitigkeit gehört. Positiv betrachtet, heisst das: Ich habe viele Talente. Negativ aber bedeutet es: Ich bin zerfahren. Ich habe nicht die Geduld, lange bei einer Sache zu bleiben und sie auf die Spitze der Perfektion zu treiben. Ich bin überhaupt nicht der Spezialistentyp. Ich sehe immer Neues, möchte vieles anfangen, habe immer neue Interessen. Ich bin mit mir zerstritten, auch meine Neigungen und Begabungen spalten sich fortwährend auf."
"Dann sind Sie also nicht zufrieden mit sich?" Peter Freiburghaus schnaubt ironisch durch die Nase: "Wer kann das von sich sagen? Ich würde es eher negativ auffassen, wenn ich mit mir zufrieden wäre. Dann müsste ich mich hinterfragen: Ist es möglich? Kann das überhaupt sein? Wohlverstanden, ich bin nicht unglücklich, aber es gibt doch Störungen und Krisen. Ich bin eher unausgeglichen, was meine Stimmungen angeht. Aber das ist nicht durchweg negativ, so bleibe ich in Bewegung."
35 Jahre alt ist er dieser Tage geworden, und er hat sich noch nicht überlegt, wo er steht. Aber jetzt, veranlasst durch unser Gespräch, zieht er Bilanz über seine erste Lebenshälfte: "Sie war sehr turbulent. Und wenn ich die Summe nehme, so muss ich sagen, dass ich mich noch sehr unfertig fühle. In andern Berufen sind viele mit 35 Jahren schon klar umrissen. Aber ich... ich kann noch nicht sagen, ich sei Meister. Dann wäre ich schon einer, der alles weiss. Dieses Gefühl habe ich nicht. Ich weiss nicht, was ist. Des Pudels Kern kenne ich weder in mir noch anderswo..." Er versinkt in Schweigen.
Es ist merkwürdig, denke ich: Ausgerechnet bei einem Schauspieler musst du erfahren, dass einer nicht spielt. Er spielt auf der Bühne und ist echt im Leben, während wir gewohnt sind, im Leben zu spielen. Woran liegt das? Schwierig zu sagen. Jedenfalls, im Innern muss er stark sein, sonst könnte er nicht so offen über seine Unsicherheit reden. Peter Freiburghaus weckt mich aus meinen Gedanken: "Wollen wir uns nicht du sagen? Wir sind doch fast gleich alt", sagt er und streckt mir die Hand entgegen.