Kleider machen Leute. Alexander Zemlinsky.

Oper.

Samuel Friedmann, Karl Absenger. Stadttheater St Gallen.

Basler Zeitung 26. Februar 1987.

 

 

Weder Täter noch Opfer

 

In der Schule mussten alle Kellers Novelle lesen. Aber keiner hat sich sonderlich für die Geschichte erwärmt. Sie sei ohne rechte Spannung, fanden wir. Der Moral ("Kleider machen Leute") fehle die Grösse. Altbackene Mittelstufenliteratur, verlegt von den "Guten Schriften". Typisch.

 

Heute habe ich die Novelle wieder gelesen. Und ich habe, mit dem Abstand von Jahren, gemerkt, warum Keller kein Schriftsteller für die Jugend ist. Weil man, was trocken scheint, erst zu schätzen beginnt, wenn man etwas Bescheid weiss über den Lauf der Welt, und wenn einen dieses Bescheidwissen auch "bescheiden" gemacht hat. Dann erst ist man in der rechten Lage, Kellers Schreibweise zu kosten, die so akkurat das Zähflüssige, das Kleine und Kleinliche der bürgerlichen Alltags – unseres Alltags – wiedergibt und ironisiert.

 

Und so, beschrieben von einem graubärtigen Fünfziger, ist es nichts als folgerichtig, dass dem Helden der Seldwyler Novelle ("Kleider machen Leute") die Grösse fehlt. Nichts als folgerichtig, dass es bloss "ein armes Schneiderlein" ist, welches in die Novelle hineingerät und ohne sein Dazutun zum  Mittelpunkt einer "unerhörten Begebenheit" wird. Strapinsky ist kein "Täter", aber auch kein "Opfer". Er ist für beides zu klein, zu durchschnittlich, zu unbedeutend, mit seinem schmalen Schnurrbärtchen und "seinen fein duftenden dunklen Locken".

 

Und nun führt uns also das St. Galler Stadttheater dieses Schneiderschicksal in Form einer Oper vor. Komponist: Alexander Zemlinsky. Und die Frage ist: Was hat der Schneider auf der Bühne verloren?

 

Bitte, das ist keine ironische Frage. Eher schon eine besorgte. Denn, so schrieb der alte Fontane an Paul Schlenther: "Die Bühne ist kein Schauplatz für Nuancierungen. Sie ist der Schauplatz für Gegensätze. Nur diese schaffen Klarheit, Orientierung. Nuancierungen sind der Stolz des Romans, im Drama sind sie der Ruin. Zwanzig Nuancierungen in Ritterblech sind bloss ein Ameisenhaufen, aber ein Ameisenhaufen ist unterhaltlicher."

 

So sah's der unübertreffliche Fontane. Ich meinerseits möchte, im Blick auf unsere Literaturoper, bloss hinzufügen, dass die Bühne auch nicht der geeignete Schauplatz ist, um unauffälliges Mittelmass darzustellen. Erst recht nicht die Opernbühne mit ihren vergrössernden und vergröbernden Wirkungen.

 

Was also hat der Schneider auf der Opernbühne verloren? Horst Weber, der Zemlinsky-Spezialist, vermutet, dass sich der Komponist der Kellerschen Novelle zuwandte, weil "man allmählich der Darstellung psychischer Grenzsituationen müde wurde – man denke nur an die 'vampirhafte' Gestalt der Elektra."

 

Noch interessanter ist allerdings die zweite Hypothese: Weber meint, Zemlinsky habe sich 1908 entschlossen, "Kleider machen Leute" zu vertonen, um auf Distanz zu gehen zu seinem Schwager Arnold Schönberg, der im selben Haus wohnte wie er und sich – eben zu Zemlinskys Keller-Zeit – der Atonalität zuwandte, indem er sich mit der hermetischen Welt Stefan Georges auseinandersetzte.

 

Wenn wir diese Erklärung annehmen wollen, so kam der Schneider mithin auf die Bühne als späte (und vergebliche) Beschwörung des klassischen Wiener Erbes, des Erbes von Mozart, Brahms und Mahler.

 

Doch wie wirkt nun der Schneider auf der Bühne? Antwort: Wie eine leere Null. Da er weder Täter noch Opfer ist, liegt das Gesetz des Handelns bei den übrigen Figuren, nicht bei ihm. Und so werden uns die andern erkennbarer, deutlicher, "wirklicher" als er, der doch das Zentrum abgeben müsste.

 

Der Regisseur, Karl Absenger, hat diesen Umstand in der St. Galler Aufführung wettzumachen versucht, indem er Strapinsky eine Art Schatten, ein "anderes Ich" beigab, das pantomimisch jene Entschlussqual und Seelenpein auszudrücken hatte, die die Oper dem Schneider versagt.

 

Man kann diese Verdoppelung als Vergröberung abtun, wird aber anerkennen müssen, dass diese Vergröberung sich kongruent zu Zemlinskys Musik verhält, die mit lautersten Absichten die literarische Vorlage ebenfalls vergröbert und vergrössert. Das Rollen der Kutsche wird da zur brausenden Schicksalsfahrt, der Kutscher zu Goethes mythologischem "Schwager Chronos". Nettchen, die Amtsratstochter, verliert "die Art behaglicher Kleinstädterinnen" und wird zur Operndiva, die mit professionellem Tremolo ein Heinelied vorträgt: "Lehn deine Wang' an meine Wang" ...

 

Jeder Bürger von Goldach gleicht einem wandelnden Abgrund, und Melcher Böhni, der Buchhalter einer grossen Spinnerei, ist nicht mehr bloss "ein geborener Zweifler", der sich vergnügt die Hände reibt, nein, in der Oper erscheint er als abgewiesener Liebhaber und rachsüchtiger Finsterling. Mit einem Wort: Kellers Novelle erhält bei Zemlinsky einen fatalen Zug ins Grossspurige.

 

Diesem Zug ins Grossspurige nun hat sich die St. Galler Inszenierung von Karl Absenger nicht widersetzt. Im Gegenteil, sie erweitert ihn um die Dimension des Romantisch-Unheimlichen. Da sorgt raffinierte Geisterbahnbeleuchtung für geheimnisvolles Auftauchen von Requisiten und Spielstätten, und das von Samuel Friedmann straff geführte Orchester liefert dazu die nötigen Stimmungen und hochdramatischen Akzente (hinter denen allerdings die Gesangsstimmen verschwinden).

 

Fazit: St. Gallen zeigt uns "Kleider machen Leute" in einer einheitlichen, aber nicht unbedenklichen Aufführung. Libretto, Komposition und Aufführung wirken zusammen, um Kellers wohldosierte Schilderung kleinstädtischer Biederkeit aufzulösen und das arme Schneiderlein aus Seldwyla hinüberzustossen ins Nirgendwo konventioneller Opernromantik.

 

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