Iphigenie auf Tauris. Christoph Willibald Gluck.

Oper.

Michael Boder, Achim Freyer. Theater Basel.

Radio DRS-2, Reflexe, 21. Januar 1991.

 

 

Mit "Iphigenie" wird eine grauenvolle, eine schreckliche Geschichte erzählt, und "blutiges Familiendrama" ist dafür nur eine harmlose Schlagzeile. Ein Beil steht im Mittelpunkt des Dramas. Mit diesem Beil will der Vater seiner Tochter den Kopf  abschlagen. Das gelingt ihm zwar nicht, dafür kommt der Vater zur Strafe in der Badewanne um. Die Mutter schwang das Beil. Um dieses Unrecht zu sühnen, erschlägt jetzt der Sohn die Mutter – wieder mit dem fatalen Beil. Und jetzt hält's die Tochter, Iphigenie, in der Hand. Sie soll damit ihren Bruder umbringen, jenen Bruder, der die Mutter erschlagen hat.

 

Das Beil also zieht eine blutige Spur: einen Teufelskreis von Gewalt und Vergeltung; einen Teufelskreis von Mord und Sühnemord; und die Oper steuert auf die Frage zu: Gibt es denn keine Erlösung? Soll man diese schreckliche Geschichte als musikalisches Theater geniessen? Soll man klatschen, wenn das Blut fliesst und die Musik dazu spielt?

 

Nein, sagt Regisseur Achim Freyer. "Iphigenie" ist keine schöne, keine klassische Oper, bei der man unter griechischen Säulen an exotischen Stränden Erholung findet. Denn "Iphigenie" spricht nicht von der heilen Welt und vom Frieden, sondern von der Sehnsucht. Der Sehnsucht nach dem Frieden, der Sehnsucht nach der heilen Welt. So wie Regisseur Achim Freyer die Oper auffasst, erzählt sie also die Geschichte von Leuten, die an Gewalt und Mord verzweifeln, die aus dem Teufelskreis heraustreten möchten, aber nicht wissen, wie sie sich befreien können.

 

(Musik)

 

"Iphigenie auf Tauris" von Christoph Willibald Gluck war Achim Freyers erste Operninszenierung. Herausgebracht hat er sie vor zwölf Jahren an der Staatsoper München. Seither ist die Inszenierung an andern Häusern immer wieder aufgenommen worden, und nun läuft sie in Basel und gilt selbst schon als Klassiker des modernen Musiktheaters. Das liegt an der Qualität ihrer Bilder. An der Intensität und Leuchtkraft ihrer Farben. Und an der Genauigkeit der szenischen Konzeption. Jedes Element auf der Bühne hat symbolische Bedeutung und entfaltet suggestive Kraft. Freyer, der für Inszenierung, Bühnenbild und Kostüm zeichnet, hat das Werk genau durchdacht. Das zeigte sich im Interview, das mein Kollege Max Nyffeler mit Achim Freyer geführt hat:

 

(Wort)

(Musik)

 

"Iphigenie auf Tauris" von Christoph Willibald Gluck, ab CD, in der französischen Originalfassung. In Basel singt man eine deutsche Übersetzung aus der Zeit Glucks, die den Vorteil hat, dass man die Nebenrollen versteht. Bei Iphigenie selbst ist das nicht der Fall. Aus ihrem Mund strömt süsser, wohltönender Brei. Die Sängerin der Iphigenie, Rachel Gettler, bringt damit alle Monologe der Hauptfigur um ihre Wirkung. Denn ohne Wortverständlichkeit bleibt uns die Sinndimension des Gesangs verschlossen. Wenn also Iphigenie singt, reduziert sich die Oper auf ein Konzertstück, das strömt und klingt und fliesst, ein pastoser Klang, der auch vom Basler Sinfonieorchester unter Leitung von Michael Boder aus dem Orchestergraben hervorquillt; gewiss dicht, samtig und klangsatt, aber nach meinem Empfinden von der Konzeption her falsch. Musik und Bühnengeschehen sind in dieser Produktion fatal auseinandergewachsen. Auf der Bühne betreibt Achim Freyer sparsamstes Ikebana: Er stellt blutige Blumen zu einem fragilen Arrangement zusammen. Die Musik aber serviert dazu Speck und Bohnen.

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