Onkel Wanja. Anton Tschechow.
Schauspiel
Rudolf Kautek. Städtebundtheater Biel–Solothurn.
Bieler Tagblatt, 28. November 1980.
Bilder des ungelebten Lebens
Zum ersten Mal seit den acht Jahren, wo Alex Freihart das Städtebundtheater leitet, sieht man den Direktor selber auf der Bühne. Die Rolle, mit der er sein Debüt gibt, ist anspruchsvoll. Doch es scheint, als sei ihm Tschechows "Onkel Wanja" auf den Leib geschrieben. Freihart bringt das richtige Alter, das richtige Aussehen und die richtige Ausstrahlung mit. Man kann daher von ihm als dem Ereignis des Abends sprechen.
Schon wie er auftritt, ist beeindruckend: stumm und zurückhaltend, aber mit einem Körper, der alles sagt. Da zeigt sich eine Präzision des Ausdrucks, der später auch das Sprachliche gehorcht. Von diesem Darsteller geht echte Wirkung aus. Alex Freihart spielt nicht massstabgetreu, sondern mit leicht überhöhten Tönen. Seine Schauspielerkunst beruht auf Zeigekunst. Alles ist am Äusseren ablesbar, und trotzdem stimmt die Figur von innen her.
Die zweite Überraschung bereitet Hans Schatzmann als Astrow. Bisher zeichnete sich dieser Darsteller durch das Talent aus, im Profil seiner Gestalten das Prägnante zu finden. Und damit gab er seinen Rollen jeweils einen leicht karikaturistischen Zug. Nun aber sieht man kaum eine Gebärde, die zum typischen Schatzmann-Repertoire gehört. Sein Astrow wirkt in keiner Weise lächerlich; man nimmt diesen Menschen ernst, weil Schatzmanns Zurückhaltung dem Arzt etwas Vornehmes mitgibt.
Und damit bildet diese Gestalt einen sinnvollen Kontrast zu Freiharts Darstellung des Wanja. Beide Schauspieler haben Menschen zu zeichnen, die mit Verzweiflung und Desillusionierung fertig werden müssen. Der eine, gewissermassen der Extravertierte, versucht seine Enttäuschung durch Gefühlsausbrüche und kindische Zerstörungswut zu bewältigen. Der andere aber wird verschlossen und krümmt sich lautlos über seinem Gram zusammen.
Eine dritte Gestalt wird in diesem Zusammenhang wichtig: Alexander Wladimirowitsch Serebrjakow, ein emeritierter Professor, der über Kunst schreibt, aber nichts davon versteht. Ihn gibt Karl Sibold mit der notwendigen Aufgeblasenheit.
Er ist es, der das bisher geordnete Gutsleben durcheinandergebracht hat. Er ist auch der Anlass von Wanjas Verzweiflung: "Fünfundzwanzig Jahre habe ich dieses Gut verwaltet, dir Geld geschickt wie der gewissenhafteste Verwalter, und du hast mir die ganze Zeit nicht einmal gedankt. All unsere Gedanken und Gefühle haben dir gehört, dir allein. Aber jetzt sind mir die Augen aufgegangen! All deine Arbeiten, die ich geliebt habe, sind keinen Kupfergroschen wert."
Dieser Serebrjakow, der "im übrigen das ganze Haus mit seiner larmoyanten Altersmisere, seiner Scheinbedeutung und seinem Podagra tyrannisiert" (Thomas Mann), bringt Jelena Andrejewna mit, eine 27jährige Frau, die Wanja und Astrow den Kopf verdreht.
Jelena Andrejewna wird von Gudrun Erfurth gespielt, einer Schauspielerin, die man vom Stadttheater Bern her kennt. Doch ihre Gewohnheit, auf grossen Bühnen zu spielen, verleitet sie zu einer überdimensionierten Mimik, die in einem kleinen Theater notgedrungen übertrieben wirkt. Eine zweite Schwierigkeit: Man hat, vor allem in den ersten Reihen, Mühe, ihr die 27jährige Frau abzunehmen.
Viel glaubwürdiger hätte Gudrun Erfurth in der Rolle der Sonja gewirkt, jenes älteren Mädchens, das von allen geachtet, aber von niemandem geliebt wird. Sie hätte das wahrscheinlich auch besser gespielt als Eleonore Bürcher, die schon vom Äusseren her schlecht zu dieser Figur passt. Die Sonja gerät ihr zu lieblich und zu adrett, als dass man glauben möchte, was die Leute über sie sagen: "Sie ist gütig, grosszügig, aber schade, dass sie so hässlich ist..."
Hätten diese beiden Schauspielerinnen ihre Rolle tauschen können, dann wäre ihre Darstellung echter ausgefallen. Und dann hätte auch ein Makel an Gewicht verloren, der nun die ganze Aufführung empfindlich stört: Bei allem Einsatz der Schauspieler nämlich – ich denke auch an Peter Glauser und Linde Strube – vergisst man nie, dass man es mit Theater zu tun hat. Zugegeben, mit einem Theater, das für unsere Verhältnisse Überdurchschnittliches leistet; aber es gelingt diesem Theater nicht, sich in "Leben" zu verwandeln.
Konstantin Stanislawski, Tschechows erster Regisseur, hat die Klippe wie folgt beschrieben, an der die Bieler Aufführung vermutlich scheiterte: "Das Schwerste für den auf der Bühne Stehenden ist, das, was auf ihr geschieht, wirklich zu glauben und völlig ernst zu nehmen."
Damit Theater zu Leben wird, braucht es im Fall von "Onkel Wanja" Gespür für das, was die Einheit hinter den Szenen ausmacht. Tschechow hat seinen "Wanja" nicht "Stück" genannt, sondern "Szenen aus dem Landleben". Dies mit gutem Grund. Ein Stück hat normalerweise einen Helden, ein Problem, eine Lösung. Die "Szenen" indessen zeigen viele Probleme, acht Personen und keine Lösung. Aber trotz dieser Vielfalt ist etwas vorhanden, das alle Szenen verbindet: die Zeit, die wie ein unterirdischer Fluss durchs Stück rinnt und nur zuweilen an die Oberfläche tritt. Dann aber wird den Menschen bewusst, dass sie vergebens gelebt haben. Dann sagen sie: "Es ist schon fast alles zerstört, aber als Ersatz dafür ist noch nichts, nichts Neues geschaffen."
Gerade dieses Verrinnen der Zeit aber, das zum Wichtigsten des Stücks gehört, hat Rudolf Kautek nicht inszeniert. Er hat kein Gefälle vom Anfang zum Ende geschaffen. Es wird nicht spürbar, dass das Stück im Sommer anfängt und im Herbst aufhört. Die Personen sind nicht vom Ablauf geprägt, der die Jahreszeiten ändert und zugleich ihr Leben.
Das aber bedeutet, dass die existentielle Tragik des "Onkel Wanja" in der Bieler Aufführung unausgesprochen bleibt: Das Problem der Zeit, die sinnlos verrinnt und aus dem vergangenen Leben ein ungelebtes macht. Und dabei weist doch die Regieanmerkung "Pause" im Text laufend auf diesen Umstand hin! Denn gerade in der Pause geschieht nichts ausser dem Verstreichen der Zeit...
Rudolf Kautek jedoch hat keine einzige dieser Pausen inszeniert. Daher ist die Aufführung zwar schauspielerisch interessant, aber gleichzeitig noch weit von einer Tschechow-Inszenierung entfernt, die diesen Namen verdient.